Als erstes erblickte ich Füße in Damenturnschuhen. Es folgten schlanke Waden und ebenso schlanke Schenkel. Das rote T-Shirt war leicht verrutscht. Den Rest wollte ich nicht sehen. Mir war klar, wer dort lag. Ich kannte jedes ihrer Kleidungsstücke, dennoch konnte ich meine Augen nicht aufhalten. Ihr graumeliertes Haar stand verfilzt in alle Richtungen ab. Die Augen waren geschlossen, als schliefe sie nur. Um den Arm war ein rotes Band gewickelt und die Nadel steckte immer noch in ihrer Haut. Ich kannte dieses Bild bereits. Dieses Mal musste ich jedoch ihren Puls nicht prüfen. Ich schaffte es noch nicht einmal in Panik zu verfallen. Dem Geruch zu urteilen, kam für sie jede Hilfe zu spät. Selbst ihre Haut schimmerte schon gräulich. Ich ließ mich am Türrahmen heruntergleiten. Knie schlugen auf dem Fliesenboden auf. Es hätte wehtun müssen, aber ich fühlte es nicht.
Neben der Toilette lag meine Mutter mit offenem Mund, während die Sonne ins Zimmer strahlte, als wäre nichts passiert. Erst als mein Frühstück sich den Weg nach oben bahnte, sickerte die Realität zurück in mein Bewusstsein. Lautstark erbrach ich mich auf den Badezimmerboden und hörte erst auf, als mein Magen völlig geleert war.
Ich wagte nicht einen weiteren Blick auf Ihre Leiche. Ich schrie nicht und keine Träne verließ meine Augen. Eine merkwürdige Abgeklärtheit erwischte meinen Körper. Vorsichtig zog ich mich am Türrahmen wieder hoch, darauf bedacht nicht auf meinem Erbrochenem auszurutschen. Wackelig lief ich ins Wohnzimmer und steckte mein Handy an die Ladestation. Ich brauchte mehrere Versuche, um das Ding wieder anzubekommen. Als es endlich wieder funktionsfähig war, vibrierte es ununterbrochen und zeigte mir zwanzig verpasste Anrufe und einige Nachrichten an. Die Anrufe waren von meiner Mutter. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte die erneut aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken, ehe ich wieder auf das Handy blickte und die Nummer der hiesigen Polizeistation wählte. Kaum fing es an zu klingeln, nahm Jemand ab: „Police Service Kenmore, hier spricht Police Officer Ainsley".
„Mein Name ist Adriana Walker. Ich möchte mit Chief Constable Bean MacGillivray sprechen. Sagen Sie ihm, es geht um einen Todesfall", drang meine Stimme klar in den Hörer. Officer Ainsley bat mich um Geduld. Er machte sich nicht die Mühe das Telefonat stumm zu schalten. Ich hörte die restlichen Polizisten im Hintergrund lachen und plaudern. Sie sprachen über ihre Frauen, doch das könnte mich nicht weniger interessieren. Ich hörte dennoch zu, da es mich davon abhielt über meinen Fund im Badezimmer nachzudenken. Es fühlte sich an, wie eine Ewigkeit, bevor Bean endlich den Hörer in die Hand nahm. „Adriana, was ist los?", erklang mir seine vertraute Stimme.
„Sie ist tot. Mam liegt im Badezimmer", beantwortete ich leise seine Frage. „Ich komme sofort rüber", damit beendete er das Gespräch. Ich blieb einfach an Ort und Stelle sitzen und starrte auf die verpassten Anrufe. Es waren auch Mailboxnachrichten drauf, doch ich traute mich nicht diese abzuhören. Ich legte das Gerät auf die Couchlehne. Es schien mich zu verhöhnen. Erschöpft rieb ich mir die Schläfen, nicht bereit mich fallen zu lassen. Wenn ich jetzt alle Gefühle in mir zuließe, bräche ich zusammen. Das Bild sah ich noch klar vor meinen Augen. Die geschlossenen Augen, der offene Mund, die verfilzten Haare und die Nadel im Arm. Wollte sie sterben oder war es ein Versehen? Ich kniff die Augen zusammen und drückte fester gegen meinen Schädel. „Das alles ist nur ein schräger Traum", murmelte ich immer wieder vor mich hin, dennoch hielt sich das Bild hartnäckig in meinem Kopf. Fest schlug ich mir gegen die Stirn. „Hör auf. Hör auf. Hör auf", schrie ich mich selbst an. Das Bild blieb. Hart bohrte es sich in meine Erinnerung, um dort für immer zu verweilen. Meine Hände begannen zu zittern. Schwer schlug mein Herz in meiner Brust, während ein unangenehmer Schauder meinen Körper ergriff. Mam war tot. Sie lag einfach in unserem Haus, indem ich noch leben musste. Wie konnte sie nur? Warum hatte sie sich selbst aufgegeben?
Ein lauter Knall riss mich aus meinem Gedankenschwall. Officer Ainsley und Chief MacGillivray tauchten im Wohnzimmer auf und starrten mich an. Verstört über ihre Mienen blickte ich die beiden an. Seltsamerweise nahm ich die Männer nicht richtig wahr. Es war als befände ich mich überhaupt nicht in meinem Körper. Obwohl ich das Klopfen und Klingeln gehört hatte, hatte ich es nicht zuordnen können. Ich hatte die Ankunft der Polizisten verpasst. Jetzt da ich in die besorgten Gesichter der Männer sah, begann ich zu realisieren, dass ich eine Embryonalstellung angenommen hatte. Meine Kniee lagen an meinem Oberkörper an und die Arme hatte ich vollends um mich geschlungen. Ruckartig zog ich meine Arme von den Beinen. Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich diese Position bewusst gewählt hatte. Langsam ließ ich die Beine von der Couch rutschen und setzt mich aufrecht hin. „Mir geht es gut", versuchte ich die zwei zu beruhigen. Vielleicht versuchte ich mich auch selbst zu beruhigen. Ich sah ihnen an, dass sie mir nicht glaubten. Ich glaubte mir selbst nicht. „Adriana, wo ist deine Mutter?", fragte mich Bean MacGillivray. „Im Badezimmer."
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Blindly Fallen
RomanceAdriana, du kannst mich riechen. Du kannst mich hören. Du wirst mich definitiv auf dir spüren. Ich werde dich beherrschen. Wenn du die Maske herunter nimmst, ist das Spiel vorbei. Bist du bereit , die Kontrolle abzugeben? Bist du bereit, deine...