Mein Anker

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Lyla

Der Tag war gekommen und der Morgen gerade erst angebrochen.

Wir waren bereit - bereit, um den Menschen zu beweisen, dass Frauen mehr konnten, als nur hübsch auszusehen. Denn meine Rebellen und ich hatten Großes vor.

Zunächst einmal schlugen wir uns vor dem Aufbruch der Reise kräftig die Bäuche voll, um auch eine längere Zeit ohne Nahrung auskommen zu können. Außerdem mussten wir uns stärken für den langen Ritt. Der heutige Tag würde uns nur näher an die Grenzen von Zumalia bringen, aber noch nicht unser Ziel erreichen. Klug sollten wir vorgehen - nicht auffallen und keine Wachen an Bord haben.

Ich griff nach einem Apfeltörtchen, biss genüsslich herein und merkte erst nach dem runterschlucken, wie mein Magen rebellierte. Ich atmete tief durch, um nicht die Fassung zu verlieren. Was war bloß los mit mir? Ob es daran lag, dass ich ungewöhnlich viel Druck verspürte, da alles gut gehen musste? - Ich war mir nicht ganz sicher.

"Lyla, geht es dir etwa nicht gut?", fragte Lady Gina besorgt und strich über meinen Handrücken. Ich sah sie an und schüttelte nur den Kopf. "Alles gut, Gina. Es ist nur die Aufregung", versuchte ich sie zu beschwichtigen. Doch ihr Blick verriet mir, dass sie meinen Worten keinen Glauben schenkte.

"Du siehst nicht gut aus", sagte nun auch Violett und ich drehte meinen Kopf zu ihr herum. Sie sah aus wie eine echte Kriegerin. Ihr blondes Haar trug sie in einem geflochtenen Zopf, in denen Lederbänder eingearbeitet wurden. Zudem trug sie ein weißes Kleid, welches von einem ledernden Korsett gehalten wurde und auch sonst entdeckte ich viel Außergewöhnliches.

So hatte sich noch keine Frau je gekleidet. Dieses wunderschöne Goldbraun des Leders, welches so perfekt an ihren Körper angepasst wurde, passte hervorragend zu dem halblangen weißen Kleid, welches eher als Unterkleid wahrgenommen werden konnte, denn es schien nicht besonders dick zu sein. Dazu trug sie passende Stiefel.

"Lyla", riss Violett mich aus meiner Bewunderung. "Ja?", fragte ich etwas verlegen zurück.

"Ich sagte, wenn es dir nicht gut geht, solltest du hier bleiben und uns das beenden lassen" Meine Augen wurden groß und es wich jegliches Gefühl, was mich behinderte, zurück blieb nur die Entschlossenheit in meinen Worten, die ich hart zum Ausdruck brachte:" Niemand verlässt das Schloss ohne mich, habt ihr verstanden?"

Bei meinen Worten drehten sich nun auch die anderen Tischdamen zu uns um und nickten gehorsam, als ich jede einzelne von ihnen prüfend musterte. So gehörte es sich. Sie würden nicht ohne mich gehen. Es war mein Plan gewesen - oder eben ein Teilstück des Ganzen. Da würde mich niemand davon abbringen, ihn nicht umzusetzen.

Somit aßen wir schweigsam weiter und ich zog mich danach ein letztes Mal in meine Gemächer zurück.

Dort kleideten Ella und Lena mich neu ein, sodass ich ähnlich wie Violett, den Anschein einer Kriegerin erweckte. Doch mein Kleid reichte bis zum Boden und war eher in einem beige, als einem weiß gehalten. Über dem Kleid trug ich einen dunkelbraunen, breiten Gürtel, an dem ich einen Dolch oder auch ein Schwert hängen konnte. Das Korsett trug ich wie gewohnt unter dem Kleid. Meine Haare hingegen wurden ähnlich geflochten, wie die von Violett, nur dass es zwei Zöpfe, statt bloß einem, waren.

Nach einem letzten Blick in den Spiegel, wurde mir ein brauner Umhang umgelegt und eine kleine Tasche gereicht, in der nur das Nötigste eingepackt war. Danach machte ich mich in Begleitung einiger Wachen auf den Weg zum Schlosshof, auf dem schon die Pferde bereit standen. Ich lächelte, als mein Blick auf den schwarzen Hengst fiel.

Mystery. Ein wunderschönes Tier - so anmutig und leichtfüßig.

Matthew hatte ihn für mich hier gelassen und dafür war ich ihm unendlich dankbar. Als ich näher trat und er mich in seinem Blickwinkel erkannte, wieherte Mystery freudig und ich begrüßte ihn mit einem Grinsen.

Er würde mein Anker sein. Der Anker meines Mutes, meiner Entschlossenheit und meiner Vernunft. An ihn würde ich mich festhalten, wenn meine Gedanken mich von Bord zogen. Und er würde mich zurück auf den Boden bringen, wenn ich mir in den Wellen des Sturms verlor.

Ehe ich mich mental fallen lassen konnte, erklangen die Kirchglocken laut und kraftvoll. Es war das Zeichen des Aufbruchs.

Für einen Augenblick dachte ich zurück, an den Tag, an dem Matthew fort geritten war. Ich wollte ihn damals einfach nicht gehen lassen, doch er hatte mir versprochen, er würde zurückkommen. Und ich hatte ihm geglaubt, wenn auch nur diesen einen Moment lang, in dem ich in seinen Armen gelegen und ein letztes Mal geküsst hatte.

Wie töricht von mir!

In der Realität sah das ganze Etwas anders aus. Es war nicht ich, die die Treppen hinunter kam, um sich von Matthew zu verabschieden, sondern es waren meine Hofdamen, die mich auf dieser Mission begleiten würden.

Und eine Sache war mir mehr als bewusst - es würde nicht leicht werden.

Gemeinsam begannen wir unsere Reise: Lady Gina, Lady Violett, Lady Amalia und noch etwa sechs weitere Frauen. Sie waren nicht alle adelig, aber doch von höherem Stand. Ich hätte mir natürlich gewünscht, wir würden auch aus den ärmeren Schichten, tapfere Frauen und Mädchen finden, doch dem war nicht so gewesen.

Wenn ich meine Schwester so ansah, dann wusste ich auch, warum. Sie und meine Familie wurden heute ins Schloss gebracht, so auch die Familie meiner Freundinnen. Somit würden sie erstmal in Sicherheit sein. Es war nur schade, dass ich mich von meiner Familie nicht mehr verabschieden konnte. Ich hätte sie gerne noch ein letztes Mal gesehen.

Bedauerlicherweise hatte ich darauf keine Rücksicht nehmen können. Wir hatten aufbrechen müssen, alles andere hätte uns zu viel Zeit gekostet, die wir nicht hatten.

Immer wieder trieben wir die Pferde an, schneller zu laufen, um noch vor Einbruch der Nacht unser Lager zu erreichen, in dem wir auf unsere Verstärkung treffen würden.



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