Kapitel 10 - Der Angriff

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Als June am nächsten Morgen mit einem leicht dröhnenden Kopf aufwachte, was sie dem Wein verdanken konnte, krähte der Hahn drei mal. Verschlafen setzte sie sich auf und wäre eigentlich viel lieber unter ihrer warmen Bettdecke geblieben, doch die Königsgemächer würden sich nicht von alleine aufräumen. Ein Blick auf ihren Wecker zeigte ihr, dass sie schon viel zu spät dran war.

"Kacke, muss das ausgerechnet heute sein?", fluchte June, schnappte sich eine Bürste von ihrem Waschbecken und wühlte währenddessen in ihrem Schrank nach einer frischen Bluse. Als sie endlich ihre Haare gebändigt hatte, konnte sie noch immer keine finden. Verzweifelt sah sie auf den Wäschestapel, der sich auf einem Stuhl in ihrem Zimmer hoch türmte. Sie hatte doch wirklich vergessen, ihre Kleidung in die Wäscherei zu bringen.

"Im Ernst? Das kann doch nicht wahr sein!", schimpfte June weiter. Ein weiterer Blick auf den Wecker zeigte ihr, dass der Zeiger unaufhaltsam voran marschierte.

Scheiße, was mache ich jetzt?

Noch einmal nahm June ihren Kleiderschrank halb auseinander. Keine Bluse. Dann muss es heute wohl eben das Sommerkleid für besonders heiße Tage tun. Hoffentlich würde sie darin nicht erfrieren. Zu allem Überfluss bemerkte June, dass das Kleid ihr viel zu kurz geworden war, sodass es gerade mal bis zur Hälfte ihrer Oberschenkel reichte. Irgendwie musste es beim letzten Waschgang eingelaufen sein.

Na toll, damit kann ich mich doch nicht vor Loki blicken lassen?

Andererseits: sollte er doch denken was er wollte.

Sonnenstrahlen begleiteten June auf ihrem Weg zu den Gemächern. Das weiße Kleid umspielte sanft ihre Oberschenkel und ihre Haare lagen leicht auf ihren Schultern. June fühlte sich, als könne ihr an diesem Morgen nichts und niemand die gute Laune vermiesen. Nicht mal der Prinz mit seinen Kommentaren. Wie sehr sie sich täuschen sollte, erfuhr sie jedoch erst später.

Leise vor sich hin summend tänzelte June auf dem glänzenden Marmorboden zum ersten Gemach. Die übliche Unordnung in Thors Zimmer störte sie nicht. So langsam bekam June das Gefühl, immer noch etwas von dem gestrigen Wein intus zu haben. Schon lange hatte sie sich nicht mehr so glücklich gefühlt. Vielleicht lag es auch daran, dass sie Loki klar gemacht hatte, dass er nicht mehr weiter so mit ihr umgehen konnte.

Nach dem Mittagessen fehlte nur noch Lokis Gemach, das sie wie immer bewusst versucht hatte zu vermeiden. Wieder mal führte kein Weg an ihren täglichen Pflichten vorbei. Mit einem Seufzen stieß June die schwere Eichentür zu seinem Gemach auf und wappnte sich innerlich vor irgendwelchen Beleidigungen oder Wutanfällen.

Diesmal fand sie sein Gemach nicht leer vor. Loki saß auf einem grün gepolsterten Sessel und blickte nicht mal von seinem Buch auf, als June in den großen Raum trat. Sollte ihr Recht sein. Ignorieren war besser als kommentieren.

Still und fast heimlich machte sich das Zimmermädchen an das Bett ran, um wie immer die Kissen und die Decke aufzuschlagen. Auch Wochen nach dieser Nacht konnte sie nicht vermeiden, dass schmerzliche Erinnerungen an seine Berührungen in ihrem Kopf auftauchten. Sie schienen June beinahe auslachen zu wollen für ihre damalige Naivität.

Kopfschüttelnd drehte sich zu den bodentiefen, von schwarzem Holz eingerahmten Fenstern, um frische Luft in das Gemach zu lassen. Ein kühler Windstoß wehte ihr entgegen, bauschte die schweren Samtvorhänge auf und ließ eine Gänsehaut an Junes Beinen und Armen heraufkriechen. Innerlich verfluchte sie sich für ihre Schusseligkeit.

Kaum hatte sich das Zimmermädchen von dem wunderschönen Anblick auf die wilden Fluten unter der Regenbogenbrücke lösen können, legte sich weicher Stoff über ihre Schultern und schlanke Finger, die diesen behutsam glatt strichen. June zog scharf die Luft ein und wagte es nicht, sich von dem Fenster zu rühren. Sie spürte seinen warmen Atem in ihrem Nacken, als seine tiefe Stimme flüsterte: "Euch schien kalt zu sein."

Junes Herz klopfte wild wie die Fluten gegen ihre Rippen. Dieses blöde, vermaledeite Herz, das immer im falschen Moment meinte, schneller klopfen zu müssen. Ihr Blick klammerte sich wieder an einen Punkt in der Ferne.

"Ihr...wirkt nervös", stellte Loki fest. June konnte das Grinsen in seiner Stimme hören. Und obwohl Loki sie nicht berührte, spürte sie die Wärme, die von seinem Körper ausging.
"Ihr seid doch nicht etwa nervös wegen mir?", stichelte der Prinz weiter. Das Zimmermädchen atmete tief durch. Nicht aufregen June, ganz ruhig.

Wut schnaubend drehte sich die junge Frau zu ihm um. Sie hatte seine Spielchen sowas von satt! Mit zusammen gekniffenen Augen blickte sie in die atemberaubend Grünen von Loki. Fast hätte June auf einen Schlag vergessen, wie sehr er sie wieder nervte, aber ein Funkeln zu ihrer Linken erregte ihre Aufmerksamkeit. Und das nicht zu spät.

June stieß einen erschrockenen, erstickten Schrei aus. Eine Pfeilspitze zeigte geradewegs auf sie zu. Sie hatte keine Zeit mehr zu überlegen. So schnell es ihr möglich war schmiss sie sich mit ihrem gesamten Gewicht gegen den Prinzen. Sie fielen zu Boden. Der Pfeil bohrte sich mit einem lauten Klirren durch das Fenster und nur wenige Zentimeter über ihren Köpfen in das Holz des Bettes.

Panisch rollte sich June von Loki und kroch unter das Bett. Ihr Atem ging schnell und der Angstschweiß brach ihr aus, als sie realisierte, wie knapp sie beide gerade dem Tod entronnen waren.
"Loki?", brachte das Zimmermädchen hervor, "Ist alles gut bei Euch?"

Der Prinz gab darauf keine Antwort. Er lag noch immer geschockt auf dem Boden. Plötzlich kam wieder Leben in ihn, als er realisierte, in welcher Gefahr sie schwebten.
"June, bleib wo du bist", zischte Loki. Jeglicher Sarkasmus war aus seiner Stimme verschwunden. Eiseskälte sprach aus seinen geflüsterten Worten, als er sprunghaft hinter der Wand in Deckung ging: "Der Angreifer kann noch in der Nähe sein. Du rührst dich erst, wenn ich es dir sage."

June beobachtete zitternd seine sich schnell auf und ab hebende Brust. Sein starrer Blick schnitt beinahe die Reste des Fensters entzwei, so konzentriert war er. Ohne Vorwarnung trennte sich eine gelblich flimmernde Gestalt aus Loki, die sich mit jeder Sekunde deutlicher manifestierte.

June hielt gebannt den Atem an. Ihr Herz klopfte bis zum Hals.

Der Prinz bedeutete ihr mit einem auf die Lippen gelegten Finger, still zu sein. Die Manifestation bewegte sich langsam auf das Fenster zu.

Auf einmal schoss ein weiterer Pfeil durch das Fenster. Mit einem zischenden Geräusch glitt er durch die Täuschung hindurch und bohrte sich wenige Zentimeter entfernt vor June auf den Boden.

June stieß einen erschrockenen Schrei aus und robbte panisch weiter unter das Bett.

Bei den Göttern, laßt mich lebend hier rauskommen.

Hektisch suchten ihre Augen nach Loki. Er stand nicht mehr neben dem Fenster.

Verdammte scheiße, der Kerl will mich doch nicht wirklich im Stich lassen?

"June", wisperte es neben ihr. Überrascht ruckte ihr Kopf in Lokis Richtung, der sich neben das Bett gehockt hatte und mit nach unten gebeugten Kopf zu ihr sah.
"Wir müssen hier weg. Schnell."

Auffordernd hielt der Prinz ihr seine Hand hin, die June auch sofort ergriff. Sie konnte nicht mehr reagieren, so schnell hatte Loki sie unter dem Bett hervor gezogen.

Gut dass ich hier noch sauber gemacht habe, sonst wäre ich jetzt zum Putzlappen geworden.

Auf zitternden Beinen und gebeugten Rücken lief June auf die rettende Tür zu. Sie spürte kaum, wie Loki seinen Arm um sie gelegt hatte und doch gab es ihr ein Gefühl der Sicherheit.

Nur noch ein paar Schritte. Sie hatten fast die Tür erreicht, doch weder June, noch Loki hörten den nächsten Pfeil kommen.


His deepest desire [Loki FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt