Kapitel 19 - Trauer und Entsetzen

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it felt like you threw me
so far from myself
i've been trying to
find my way back
ever since

~ rupi kaur

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Ein herzzerreißender, unerträglicher Schrei verließ Junes Kehle. Loki zuckte zusammen und riß seinen Kopf in ihre Richtung. Tilda fiel mit einem dumpfen Aufschlag hinter das Bett, als Loki den Dolch aus ihrer Brust zog.

Es war, als hätte sie ein Sturm aus Dunkelheit und Trauer erfasst, der sie innerlich zerriss. June stand nur wie erstarrt auf der Türschwelle und wollte nicht begreifen, was sie soeben gesehen hatte.

Ihre Unterlippe zitterte stark und in ihren Augen schwammen die Tränen, die ihre Sicht auf den düsteren Prinzen verwischte. June sah nicht seinen erschrockenen, flehentlichen Blick, der seine grünen Augen glänzen ließ. Seine Hand war in einer stummen Geste gehoben und erst als der Dolch mit einem Klirren auf den Boden fiel, konnte sich June aus ihrer Starre lösen.

"Was hast du nur getan", schleuderte sie ihm verzweifelt entgegen. Ihr Herz war zu gebrochen, um Hass zu verspüren.

"June, nicht! Es ist nicht so wie es aussieht!", rief Loki in derselben Verzweifelung und trat einen Schritt auf sie zu. Blut klebte an seinen Fingerknöcheln und seine Wange war aufgeplatzt. Doch all das interressierte June nicht. Er hatte sie verraten. Er hatte ihre beste Freundin umgebracht, wie konnte sie ihm jemals vertrauen?

"Nein!", schrie June, ihre Stimme war ein einziger Donner aus Wut und Trauer, "Wage es ja nicht, näher zu kommen!" Und ohne dass Loki noch weiter reagieren konnte, stürmte sie aus dem Zimmer.

Ihr Gefühle brodelten in einem einzigen, unbarmherzigen Feuer und June hatte das Gefühl, innerlich verbrennen zu müssen, so sehr schmerzte Lokis Vergehen. Sie wusste nicht, wohin sie lief. Nur weiter. Immer weiter.

Die Welt um sie verschwamm in einem tristen Grau, als sie ihre Tränen nicht länger bei sich behalten konnte. Schluchzend brach sie zusammen und spürte kaum, wie die spitzen Kieselsteine des Bodens sich in ihre Haut bohrten. Immer wieder begrub sie eine Welle schwarzer Dunkelheit und hielt sie so eisern auf tiefstem Grund, dass ihr Herz unerträglich schmerzte und verzweifelt nach Erlösung schrie.

Wie hatte sie sich nur so in ihm täuschen können? Warum hatte er das getan? Weshalb musste Loki ihr immer und immer wieder wehtun?

Verzweifelt musste June an die Sanftheit seiner Hände und das Verlangen seiner Lippen denken. Wie hatte sie sich nur auf ihn einlassen können? Wieso hatte sie nicht auf Tilda gehört? Ihre tote Tilda?

Es kam June wie eine nicht aufhörende Folter vor, bis sie schließlich bis aufs Äußerste erschöpft zusammenbrach. Ihr Körper zitterte vor Anstrengung, sodass sie nicht anders konnte, als nur auf dem Boden zu liegen

Das tiefe Blau des Himmels schien sie zu verhöhnen und der Mond schien kalt auf ihre Haut herab. June schloss gequält die Augen und wischte mit ihrem Handrücken über ihre Wangen. Sie kam sich schwach vor, wie sie nur die ganze Zeit auf dem Boden gelegen und geheult hatte. Ihre Knie schmerzten und dort wo die spitzen Steine sich in ihre Haut gedrückt hatten, flossen dünne Rinnsale von Blut an ihren Beinen hinunter.

"June!", rief plötzlich eine Stimme. June erschreckte sich zum zweiten Mal an diesem Tag so sehr, dass sie zusammenzuckte und in einer schnellen Bewegung hochfuhr. Verwirrt sah sie sich nach der Stimme um und erspähte schließlich Thor, der einige Meter entfernt am Rande eines dichten Waldes stand.

Erst jetzt realisierte sie, dass sie an einem mit Kies bedecktem Bachbett saß, um sie herum eine Wiese mit leuchtend blauen Blumen.
"Prinz Thor", krächzte June, ihre Stimme war heiser vor lauter Weinen, "Was macht Ihr hier?"

Hastig strich sich June über die zerzausten Haare und richtete ihr Kleid. Ihre Bein wackelte bedrohlich und ihr wurde für einen kurzen Moment schwarz vor Augen, als sie aufstand.
"Wir feiern ganz in der Nähe", erklärte Thor und deutete mit dem Daumen hinter seinen Rücken, "Aber was macht Ihr hier?"

Ohne das June es verhindern konnte, bahnte sich erneut eine Träne über ihre Wange. Lokis Verrat war noch jung und der Schmerz saß tief. Als Thor ihren traurigen Gesichtsausdruck sah, eilte er auf sie zu. Seine Gesichtszüge wurden so finster wie die eisige Nacht.

"Loki", stellte er fest. Sein Name war getränkt von Wut. June brauchte nichts zu sagen, ihre Tränen waren Worte genug.
"Sagt mir, was hat er getan?"
Das Zimmermädchen blickte verzweifelt in sein schönes, besorgtes Gesicht und schüttelte nur den Kopf. Sie konnte und wollte noch nicht darüber reden. Stattdessen brachte sie ein: "Später" hervor.

Eine kalte Windböe erfasste June und ließ sie frieren und erst da bemerkte sie, dass ihre unendlich kalt war.
Gleich darauf legte sich etwas schweres, warmes über ihre Schultern. Überrascht sah sie zu dem Prinzen auf, dessen Gesicht ein leichtes Lächeln zierte.

"Danke", hauchte June und schlang seinen roten Mantel enger um sich, "Das müsst Ihr nicht für mich tun."
Thor zog nur lächelnd eine buschige Augenbraue hoch, in seinen blauen Augen glitzerte Amüsement und er antwortete ihr zuzwinkernd: "Aber ich tue es gerne, für eine Lady in Not."
Junes Mundwinkel hoben sich leicht und dieses kleine Lächeln tat ihrer Seele so gut, dass sie beinahe vor Erleichterung aufgeseufzt hätte.

"Wollt Ihr Euch zu uns gesellen?"
"Lieber nicht", murmelte June, denn schlagartig war ihr wieder unendlich Elend zumute. Thor bedachte sie mit einem sorgenvollen Blick.
"Es wäre wohl besser, wenn Ihr Euch schlafen legt", meinte er und legte sanft eine Hand auf ihre Schulter. June nickte, raffte den viel zu langen Mantel etwas hoch und begann, die kleine Anhöhe zum Wald hinaufzusteigen.

"Nicht so schnell Lady, ich begleite Euch. Die Nacht birgt viele Gefahren", sagte Thor und schloss zu ihr auf. Behutsam legte er eine seiner großen Hände auf ihren unteren Rücken und leitete sie so durch das tiefe Geäst des dichten Waldes. June war dankbar um seine Anwesenheit und fühlte, wie die Wärme wieder in ihre Glieder zurückkehrte.

Auf dem Weg zum Palast genossen sie die angenehme Stille der Nacht und vernahmen nur ab und an den Ruf einer Eule. June konnte nicht umhin zuzugeben, dass sie sich wohl und geborgen in Thors Nähe fühlte. Es überschattete einen Teil ihrer Trauer, Verletztheit und Wut und ließ sie für einen kurzen Moment nicht mehr an den Vorfall denken.

Viel zu schnell kamen sie an Junes Zimmer an und nur schwer konnte June den wohl duftenden, warmen Mantel von ihren Schultern streifen und Thor in die Hand drücken.
"Danke, dass Ihr mich hierher begleitet habt", durchbrach sie die Stille und schenkte Thor einen warmen und dankbaren Blick. Dabei verdrängte sie bewusst die Gedanken an die unerträgliche Stille ihres Zimmers, die sie bald erwarten würde.

"Ihr braucht mir nicht zu danken", entgegnete Thor, sein Gesichtsausdruck jedoch verfinsterte sich: "Seid Ihr wirklich sicher, dass Ihr alleine klar kommt?"

"Ich denke schon. Gute Nacht und amüsiert Euch beim Feiern."
"Gute Nacht, Lady June", wünschte auch Thor, neigte kurz seinen Kopf und drehte sich zum gehen.

Schlagartig wurde June wieder von dieser unerträglichen, alles erstickenden Dunkelheit erfasst, die ihr Herz aufschluchzen ließ. Sie konnte jetzt nicht allein sein, es würde sie umbringen.

"Thor wartet!", rutschte es June heraus, ohne dass sie weiter darüber nachgedacht hatte.
Der Prinz drehte sich wieder zu ihr um, ein überraschter Ausdruck lag auf seinem Gesicht.

Junes Stimme zitterte, als sie stotterte: "Bitte...bitte bleibt bei mir."
Thors Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, als er ihr näher kam und schließlich vor ihr stehen blieb.
"Wie Ihr wünscht, Lady June", entgegnete Thor leise. Sein Blick huschte für einen winzigen Moment auf ihre Lippen.

Und Junes Verlangen nach Heilung überwältigte jeden rationalen Gedanken, jedes schlechte Gewissen.

Thors Lippen waren warm und weich als June ihre stürmisch auf seine drückte. Sie schmeckten nach Geborgenheit...und süßer Rache.

His deepest desire [Loki FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt