Kapitel 12 - Ein Gespräch mit dem Prinzen

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JUNE

Das Zimmer, in dem June nun schon seit einem Tag lag, kam ihr öde und langweilig vor. An den kahlen Wänden hing nichts als ein dunkles, rissiges Ölgemälde. Das schmale Fenster bot nur einen beschränkten Blick auf die blühende Außenwelt.

June hätte sich zu Tode gelangweilt, wären nicht ab und zu die Krankenschwestern oder Kolleginnen gekommen, um ihr Gesellschaft zu leisten und von der Tristess des Raumes abzulenken. Nur Tilda hatte June bis jetzt noch nicht gesehen. Bei Nachfragen hatte sie immer nur die gleiche Antwort bekommen: Keine Ahnung, wo sie gerade ist.

Komisch, ansonsten wäre sie die Erste gewesen, die in meinem Zimmer aufgekreuzt wäre. Wahrscheinlich gibt es aber einen banalen Grund für ihre Abwesenheit.

Wenn die sterile Leere des Zimmers sie angähnte, vertrieb sie sich die Zeit mit dem Lesen von Büchern, die irgendwer in ihre Nachttischschublade gelegt haben musste. Wirklich konzentieren konnte June sich nicht. Immer wieder durchlebte sie in ihren Gedanken die kurzen Schreckmoment bei dem Angriff. Darüber zu reden hatte ihr geholfen, zumindest etwas über den Schock hinweg zu kommen.

Bei passender Gelegenheit musste June in Erfahrung bringen, ob man schon rausbekommen hatte, wer für den Angriff zuständig gewesen war. Seltsam war die Sache schon. Klar, Loki war der Prinz, aber warum ihn aus diesem Hinterhalt angreifen?

Die Gedanken des Zimmermädchens schweiften wieder in eine Richtung, bei der sie am liebsten frustriert aufgeschrien hätte. Dieser blöde Prinz konnte aber auch nicht einen Tag aus ihren Gedanken verschwinden. Sein Verhalten verwirrte sie immer mehr. Erst machte er sich an sie ran und im nächsten Moment bekam er einen Wutanfall. Aber wenn Thor meinte, dass er schon immer kompliziert gewesen wäre, musste June vielleicht einfach abwarten.

*********************

Der nächste Tag brachte endlich Erlösung mit sich. June wurde von der Krankenstation mit der Anweisung entlassen, sich immer noch schonen zu sollen. Wenigstens war sie dann für einen Tag von ihrer Pflicht entbunden, Lokis geheiligte Bücher von dem noch so kleinsten Staubkorn zu befreien. 

Loki hatte sich an dem gesamten gestrigen Tag nicht mehr sehen lassen, genauso wenig wie Tilda. Seltsam. June nahm sich vor, bei der nächsten Gelegenheit ihre Vorgesetzte zu fragen. Vielleicht wusste sie, wo Tilda sich umtrieb. Das ungute Gefühl in ihrem Bauch konnte June dennoch nicht verdrängen.

Das Zimmermädchen beschloss, sich in der Palastküche etwas zu Essen zu holen. Es war schon Nachmittag und seit ihrer Entlassung hatte sie nichts mehr gegessen. Unglücklicherweise hatten ihre Kolleginnen schon wieder Schichtbeginn, sodass ihr nichts anderes übrig blieb, als sich mit ihrem Teller Suppe bewaffnet, an einen einsamen Holztisch in die Nähe eines Fensters zu setzen. June hatte sich vorgenommen, erstmal nicht mehr in die nächste Nähe eines Fensters zu kommen, was sich jedoch schwierig gestaltete.

June hatte kaum einen Löffel der Gemüsebrühe hinunterbekommen, da setzte sich auch schon Loki mit einem Satz vor sie. Das Zimmermädchen erschrak so sehr, dass es ihren Löffel in die heiße Suppe fallen ließ und sich Tropfen dieser auf ihrem hellgrünen Kleid verteilten.
Mit geröteten Wangen sah sie zu dem Prinzen auf, der das Schauspiel mit einem amüsierten Blick betrachtet hatte und nun fett grinste. Wieso musste ihr auch sowas genau vor ihm passieren?

"Kommt mit", meinte Loki plötzlich, stand auf und griff nach Junes Unterarm. Die junge Frau entriss sich protestierend seinem Griff und wollte wissen: "Warum? Ich habe noch nicht mal fertig gegessen!"

Lokis intensiver Blick ließ ihre Knie weich werden. Verdammt, wieso müssen seine Augen so schön sein?
"Weil ich es Euch befehle", entgegnete der Prinz. Seine tiefe Stimme jagte June einen warmen Schauer über den Rücken. Andererseits musste sie wieder an sein gemeines Verhalten denken und June bekam große Lust, ihm eine zu scheuern. Er hatte sich noch nicht mal erkundet, wie es ihr geht, geschweige denn eine einfache Begrüßung hervor bekommen.

Kopf schüttelnd wendete sie sich wieder ihrer Suppe zu. So einfach würde er sie nicht überzeugen können.
"Wie Euch vielleicht auffällt, habe ich gerade Mittagspause", meinte June möglichst lässig, obwohl es in ihrem Inneren brodelte. Vor Aufregung oder Genervtheit konnte sie nicht sagen. Jedenfalls wäre Tilda stolz auf sie für diesen Konter.

Neben ihr ertönte ein genervte Stöhnen, gefolgt von dumpfen Schritten. Der runde Holztisch senkte sich leicht ab, als sich Loki mit den Armen darauf abstützte. Wieder ein genervtes Schnauben. June musste sich stark zusammenreißen, um ein amüsiertes Lächeln zu unterdrücken.

Dann kam ein Brummen von ihrem Gegenüber, was sich ein bisschen anhörte wie Bitte.

"Wie bitte, mein Prinz?", hakte June nach, nicht mehr in der Lage, das Lächeln zu verbergen.
"Ich sagte bitte", wiederholte Loki, sein Gesicht war ein einziger Ausdruck von Widerwillen, "Und jetzt hört auf zu grinsen!"

June versuchte ihr Bestes und presste ihre Lippen aufeinander.
Bloß nicht zu ihm sehen!
Nach einem letzten, hastigen Löffel Suppe folgte das Zimmermädchen dem Prinzen.
Was hat er vor? Vielleicht will er sich ja bei mir entschuldigen?, überlegte June, doch erkannte schnell, wie lächerlich dieser Gedanke war. Er und entschuldigen? Eher würde Thor seinen Hammer verlieren!

June beobachtete Loki unauffällig von der Seite, als sie den Speisesaal verließen. Seine Haare waren nicht so ordentlich wie immer. Es sah so aus, als hätten nervöse Finger immer wieder durch sie hindurch gestrichen. Außerdem waren seine rosigen Lippen von einem nervösen Zug umgeben, der sich zunehmenst auf seine Gesichtszüge ausbreitete.

Je näher die Beiden dem Palastgarten kamen, desto schneller wurden seine Schritte und June bekam Mühe, mit ihm aufzuhalten. Wo bei Odin führt er mich hin? Er wird immer verwirrender!

Nach dem Verlassen des Bogengangs, der einen perfekten Blick auf den plätschernden Springbrunnen und die ihn umgebenden Blumenbeete gewährte, schlängelte sich der Prinz durch ein junges Birkenwäldchen. June bewunderte, wie sanft das Licht durch die zarten Baumkronen der Bäumchen fiel und Bilder auf die Wiese malte. Schon nach ein paar Minuten lichtete sich das Wäldchen und Loki führte June auf eine freie, mit hohem Gras bewachsene Fläche, die sich bis zu einer niedrigen Steinmauer erstreckte. In der Ferne ragten die leicht gezuckerten Berge in den Himmel empor und June fühlte sich wie an einem anderen Ort.

"Weshalb habt Ihr mich hierher geführt?", fragte June und riss sich von dem wunderschönen Anblick.
"Gefällt es Euch nicht?", erwiderte Loki, seine grünen Augen huschten unruhig über June.
Sie lächelte und verschränkte ihre Finger vor dem Körper: "Doch, es ist wirklich schön hier. Aber weshalb tut ihr...das hier?" Ihre Hände beschrieben eine ausladende Geste.
"Ich wusste, es würde Euch gefallen", meinte der Prinz nur und tat einen Schritt auf sie zu. Seine grünen Augen glitzerten sie an wie zwei Smaragde.

June zog nur skeptisch eine Augenbraue nach oben, da musste doch mehr dahinter stecken.
"Was ist los...", June zögerte kurz, bevor sie sich dazu entschloss, ihn beim Namen zu nennen, "...Loki?"
Seine Augen flakerten kurz auf, als er seinen Namen hörte.

"Ich muss Euch etwas mitteilen", erklärte sich Loki endlich und machte einen weiteren Schritt auf June zu. Das Gras knickte unter seinen Stiefeln, genauso wie Junes wütende Haltung ihm gegenüber, als sie seine nächsten Worte vernahm.

His deepest desire [Loki FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt