Genau hier, denke ich, und schaue mit gläsernem Blick aus dem Fenster der stehenden Bahn auf den kärglichen Rest Gestrüpp, der aus dem Schnee herausragt, genau hier hat mein 12- oder 13-jähriges Ich vor etwa 7 Jahren mal eine Eidechse gesehen und sich wahnsinnig gefreut. Es war ein Nachhauseweg von der Schule wie fast jeder andere, ich saß allein im Zug, der hier schon immer 10 Minuten gehalten hatte, und starrte aus dem Fenster auf die Landschaft, die hier schon immer kümmerlich aussah. An jenem Tag entdeckte ich dort unten neben dem Gleisbett eine gut getarnte Eidechse. Wie gerne wäre ich aus dem Zug ausgestiegen, über die Schienen gehuscht und hätte mich mit diesem kleinen Reptil angefreundet. Stattdessen saß ich nur da, beobachtete sie und träumte ein wenig, bis sie wieder verschwand. An den folgenden Tagen versuchte ich beim Einsteigen in den Zug jedes Mal, einen Platz an der gleichen Fensterseite zu ergattern, in der Hoffnung, sie wiederzusehen. Auch jetzt, an genau der gleichen Stelle, erinnere ich mich wieder an den Moment von damals. Das blattlose Gehölz am Boden, das so trist und traurig aussieht, dass es schon fast Angst macht, ist immer noch das gleiche, auch wenn es vom Schnee zugedeckt wurde. Zugedeckt… wie viel von diesem 12-jährigen Ich ist mittlerweile zugedeckt und wir nennen es „Erwachsenwerden“. So viel verloren gegangen, obwohl eigentlich Gewinn versprochen war. So viel ist passiert, was der Kleine von damals weder erahnen konnte, noch sich vorstellen wollte. Jetzt habe ich ein Smartphone, dass tausende hochauflösende Bilder von dieser Eidechse hätte machen können, Millionen ähnliche und bessere Bilder in sekundenschnelle im Internet findet, das aber garantiert, wenn ich es damals schon gehabt hätte, dafür gesorgt hätte, dass ich sie nicht wahrgenommen hätte. Jetzt ist es viel dunkler, wenn ich mit dem Zug nach Hause fahre, und ich komme von viel weiter weg als damals. Jetzt könnte ich mich nicht mehr freuen, sondern bin enttäuscht von mir selbst und so ausgelaugt wie mein Handyakku – in den Ferien. Ich warte darauf, dass mein Smartphone jeden Moment ausgehen wird. Dann wird auch die Playlist verklingen, die gerade alle meine traurigsten Lieder spielt. Es passt so gut dazu, dass ich die ganze Zeit, ohne eine Regung von mir zu geben, an dieser Scheibe lehne und genauso versteinert aus ihr ins Gestrüpp starre. Eigentlich hat sich der kleine von damals gar nicht so sehr verändert… er bringt genau die gleichen Dinge wie damals immer noch nicht auf die Reihe, bloß dass ihm das heute bewusst ist.
Genau hier vor etwa 7 Jahren schaute mein 12- oder 13-jähriges Ich aus dem Fenster des Zuges und entdeckte eine Eidechse. Am liebsten wäre es rausgegangen und hätte sich mit ihr angefreundet. Wäre es nur rausgegangen.
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Innere Kinder weinen oft - Große Jungen lachen noch
Short Story- Und Mädchen auch! Kurprosa-Texte, an denen manchmal ein Körnchen Wahrheit zu finden ist, manchmal aber auch ein ganzer Reissack. Soll heißen, dass diese Geschichten mir entweder wirklich passiert sind, oder nur von einem winzigen Gedanken inspirie...