Liebe, Mut und Stolz

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Alexander geht in die Knie und atmet tief durch. Der Blick auf die Überreste der Grabsteine gerichtet. „Vielleicht ist sie jetzt nicht das, was ihr euch vorgestellt habt. Sie ist ziemlich... speziell, besonders im Moment. Aber sie gibt mir mehr, als ich je zu hoffen geträumt habe." Das hat der Urvampir so jetzt nicht wirklich erwartet. Die roten Augen wandern über die verwitterten Überreste und er nickt, ehe er seinen Hut abnimmt. Respekt muss gezeigt werden, auch wenn es wahrscheinlich unerwartet für die anderen zwei kommt. Oder zumindest für den Pater. Während er sich so ein wenig im Hintergrund hält, stellt sich Nici direkt neben ihn und legt ihm eine Hand auf die Schulter, besser gesagt eine Pfote. „Unser Dorf wurde angegriffen. Besser gesagt jenes, durch welches wir gefahren sind.", fängt Anderson an und durchlebt die letzten Minuten seiner Familie als wäre er wieder dort. „Sie haben uns gejagt. Sie kamen wie aus dem Nichts, haben alles umgebracht was sie gesehen haben und... sie..." Nici sieht ihn besorgt an. Scheiß Fuchs, wieso kann sie ihm nicht die Unterstützung bieten die er braucht? Sie kann nur neben ihm in die Hocke gehen und warten, bis er von selbst die Worte wiederfindet. Das Schreien der Männer und Frauen. Die Rufe nach den Kindern oder den Eltern. Nach Familienmitgliedern. Das Kreischen. An jenem Abend hatte er das erste Mal einen Menschen auf brutale Art und Weise sterben sehen. Nicht nur einen, sondern seine Freunde, seine Familie. Menschen, die ihm nah gestanden sind und ohne die er sich ein Leben nicht hatte vorstellen können. „Sie kamen aus dem umliegenden Wald. Ich kann das Heulen immer noch hören. Die Werwölfe sie- Sie haben einfach alles und jeden umgebracht. Ich lag in meinem Bett und habe geschlafen. Ich tat das schon immer ziemlich früh, weil wir auch früh aufstehen mussten. Das Heulen hat mich aufgeweckt und ich weiß nur noch, wie meine Mutter in mein Zimmer gestürmt ist. Sie hat geschrien. Sie war total panisch, ich solle aufwachen. Mein Vater holte meinen Bruder und im Nachthemd sind wir alle aus den Häusern gelaufen. Sie kamen von allen Seiten. Das Knurren, das Heulen, das- Ich höre es immer noch. An manchen Tagen und in manchen Nächten höre ich es immer noch und es geht nicht weg." Nici spürt schnell, wie selbst der Pater bei diesen Erinnerungen leicht das Zittern anfängt. Besorgt sieht sie zu Alucard, der ein wenig vorsichtiger auf die andere Seite des Paters geht und sich dort hinkniet. Auch er legt ihm eine Hand auf die Schulter, weiß aber nicht genau wie er ihm sonst helfen soll. Den großen, immer gut gelaunten, sanftmütigen und aufmunternden Pater so am Boden zerstört zu sehen, in Panik! Das ist ein Anblick den sich der Urvampir einst vielleicht einmal wünschte, aber jetzt geht es ihm selbst an die Nieren. „Das Zerreißen von Fleisch. Ich höre es immer noch. Meine Mutter hatte mich hinter sich hergezogen, während mein Vater meinen kleinen Bruder getragen hatte. Wir wollten fliehen. Wir wollten einfach nur überleben! Einfach nur weg von hier, das alles verarbeiten und irgendwie damit weiterleben." Der Wind nimmt ein wenig zu und lässt die Mäntel der Männer ein wenig aufsteigen. „Wir hatten die Kirche hier fast erreicht. Wir waren fast in Sicherheit, weil wir in einem der Boote hätten fliehen können."

Sowohl Alucard als auch Nici bleiben einfach nur Stumm. Reden kein einziges Wort und unterhalten sich auch nicht per Telepathie. Jetzt ist einfach nur Zeit zuzuhören und ihm vielleicht mit seiner Vergangenheit zu helfen. Es sieht nämlich nicht so aus, als habe er sie wirklich verarbeiten können. Obwohl so viel Zeit war! Doch Alucard geht davon aus, dass er relativ schnell zu Iskariot gewechselt sein muss, als das alles vorbei war. „Ein paar von ihnen waren schneller als wir. Sie kamen hinter der Kirche hervor als wir zum See wollten. Unsere Eltern, sie-" Man kann sich vorstellen, was sie getan haben. Liebende Eltern, die alles für ihre Kinder geben. Eben auch ihr Leben. „Damit die zwei Werwölfe abgelenkt sind, haben sie sich geopfert und uns so ein kleines Zeitfenster gegeben in dem wir zum See sprinten konnten. Zum rettenden Boot! I-Ich bin damals mit Vater oftmals raus auf den See zum Angeln und deswegen konnte ich es steuern. Dachte ich zumindest. Als wir angekommen sind, war alles in meinem Kopf wie weg! Ich hatte Panik, habe unwissentlich meine Eltern zum letzten Mal gesehen und hätte nur einen verdammten Knoten lösen müssen. Einen! Ich konnte es nicht. Ich- Ich war wie versteinert. Ich konnte mich nicht bewegen oder denken. Gavin, mein kleiner Bruder... er- Er hat immer wieder geschrien dass ich etwas machen soll. Wir müssten hier weg! Erst als ich dieses verdammte Knurren hinter mir wieder gehört habe, da bin ich wieder zu mir gekommen. Ich drehte mich um und- Die Leichen unserer Eltern lagen wirklich zerfetzt am Boden. Blut hing an den Klauen und am Maul und- Sie haben sie einfach umgebracht. Einfach so! Ohne irgendeinen Grund! Wir haben nichts getan, okay? Wir waren normale Leute, hatten eine normale Arbeit und gingen normal in die Kirche! Warum? Gavin hatte mich beschützen wollen, obwohl ich der ältere und größere von beiden war. Er hat sich vor mich gestellt und wollte mir Zeit verschaffen, damit ich endlich den Knoten losbekomme! Er war um einiges mutiger und schlauer als ich. Er hätte so viel schaffen können, wenn er- Wenn ich-" Zitternd atmet er ein und wieder aus. Seine Hände ballen sich zu Fäuste, der Blick geht in die Ferne. Als wäre er gar nicht hier. „Sie haben ihn in der Luft zerrissen als wäre er Papier. Ich hab geweint. Ich hatte Angst, Panik! Die Schmerzensschreie von Gavin waren aber relativ schnell vorbei und ich hatte den Knoten erst gelöst, als ich etwas neben mir klatschen hörte. Ich habe nicht hingesehen. Irgendetwas hat mich davon abgehalten und ich bin in das Boot gesprungen. Es ein wenig abgedriftet und als ich mich umgedreht habe, da hab ich diese Klauen schon kommen sehen. Nur eine der Klauen hat mich erwischt, die Narbe..." Alexander hebt langsam seine Hand und legt sie an seine linke Wange, an jene wo die Narbe seiner Machtlosigkeit seinen Platz gefunden hat. „Jedes Mal wenn ich sie sehe werde ich daran erinnert, dass mein Bruder wegen mir gestorben ist. Wäre ich nur schneller gewesen... Wäre... ich nur... schneller-" Die Stimme bricht ab. Der Pater hat seine Hand an den Mund gelegt, die Kiefer pressen so stark aufeinander dass sie gleich brechen könnten und aus seinen Augen laufen die Tränen.

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