Teil 35

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Nachdem einige Zeit vergangen war und mein Arm mittlerweile geheilt war, wurde ich zunehmend rastloser, denn ich konnte mich nicht ewig hier verborgen halten. Wir hatten mal davon fantasiert, dass ich mich bis zum Ende des Krieges verstecken würde, doch auch wenn die Rote Armee offenbar schon vor den Grenzen Ostpreußens stand (wie mir Nadja skizziert hatte), war eine Kapitulation des Deutschen Reiches offenbar nicht in Sicht.

Ich hatte das Gefühl, hier auf dem Heuboden langsam verrückt zu werden. Längst konnte ich wieder behände die Leiter rauf und runter klettern und über den Dachbalken balancieren und verschaffte mir dadurch etwas Bewegung. Auch hatte mir Nadja eines Tages mein Fahrtenmesser überreicht, mit dem ich ein paar Schnitzereien anfertigte und mit dem ich übte, den Mittelpunkt einer Zielscheibe zu treffen. Doch konnte ich nicht verhehlen, dass mir inzwischen gehörig die Decke auf den Kopf fiel. Es kam nicht selten vor, dass ich mich nachts, wenn Nadja tief und fest schlief, vor die Tür des Heuschobers setzte, um den Wind auf der Haut zu spüren und den frischen Duft der Natur einzuatmen.

Nadja erzählte ich nichts davon. Sie war zwar kein ängstlicher Typ, allerdings glaubte ich, dass sie diese Aktion als unnötigen Leichtsinn betrachten würde. Wobei außer Nadja wahrscheinlich keiner so verrückt war, nachts noch über den Hof zu streifen. Ich hielt das Risiko, nachts entdeckt zu werden, für gering, geringer sogar als tagsüber, wo ja doch immer mal jemand in den Heuschober kommen konnte.

So reizvoll es einerseits wäre, die langweiligen Stunden tagsüber zu schlafen und nachts wach zu sein, so wenig empfehlenswert war andererseits die Umkehrung des Tagesrhythmus', denn ich wollte vermeiden, dass mich jemand im Schlaf überraschte. In wachem Zustand, mit einem Messer ausgerüstet und wieder im Vollbesitz meiner Kräfte blieb mir so immerhin die Chance zur Flucht in den Wald.

Ich seufzte, irgendwie konnte es so nicht ewig weiter gehen. Hier in diesem Gebiet schien der Krieg beendet zu sein, doch im Westen ging es wohl noch immer weiter. Meine Ungeduld auf ein offizielles Ende der Kriegshandlungen wuchs und gleichzeitig haderte ich mit diesen Gedanken. Aber ich konnte hier nicht Ewigkeiten weiter darauf warten, dass irgendwann einmal Frieden geschlossen wurde, es musste eine andere Möglichkeit geben.

Mir kam der Gedanke, dass Nadja und ich versuchen könnten, uns in die Schweiz durchzuschlagen. Es kam mir nicht in den Sinn, ohne Nadja fortzugehen, sie war die Liebe meines Lebens und ich war überzeugt, dass wir uns irgendwo ein gemeinsames Leben aufbauen würden. Gedankenversunken starrte ich auf das Holzdach über mir und überlegte, wie man in die Schweiz gelangen könnte. Wir würden uns dafür quer durch Deutschland schlagen müssen...nachts von Ort zu Ort ziehen und uns tagsüber verstecken...

Meine Gedanken blieben an diesem Punkt regelmäßig stecken. Ich war es nicht gewohnt, konkrete Details zu planen, ich reagierte eigentlich meist impulsiv und spontan auf eine Situation, ohne mir vorher Gedanken zu machen, aber entschloss mich nun, die Einzelheiten am Abend mit Nadja zu erörtern. Doch sobald Nadja im Heuschober auftauchte, hatte ich keinerlei Gedanken mehr für irgendwelche Planungen zur Flucht. Ich wollte jede gemeinsame Minute mit ihr auskosten und genießen, ohne sie mit strategischen Planungen zu beschweren, denn wir hatten ohnehin schon so wenig Zeit füreinander.

Auch sie malte keine Zukunftsideen mehr. Es war, als klammerten wir uns beide an das Hier und Jetzt. Wir lebten ausschließlich im Augenblick. Aber sobald sich Nadja morgens verabschiedete und ich einen langen öden Tag vor mir hatte, ärgerte ich mich jedes Mal darüber, das Thema nicht angeschnitten zu haben...

Schicksal ist, was dir passiertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt