Teil 56 ( Nadja )

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April 1945

Mit liebevollem Blick blickte ich auf das kleine Wesen in meinem Bett. Sie schlief gerade und sah dabei so entzückend aus, dass mir gerührt die Tränen in die Augen traten. Vor vier Tagen war sie in mein Leben getreten und hatte dabei alles kräftig durcheinander gewirbelt. Seitdem hatte ich feststellen müssen, dass auch neugeborene Babys schon kräftig schreien können und dies mit Hingabe mehrmals in der Nacht taten. Es war daher unmöglich, eine längere Zeit am Stück zu schlafen. Mit Schrecken dachte ich manchmal daran, wie es nur werden sollte, wenn ich wieder auf dem Hof mitanpacken musste, und meine Hochachtung vor meiner Mutter und Tante Shenja, die beide mehrere Kinder großgezogen hatten, wuchs.

Doch sobald ich Milas schlummernde Gestalt betrachtete, wurde ich von so einem großen Gefühl an Zärtlichkeit ergriffen, das es mich selbst überraschte. Ihre kleinen Hände waren zu Fäusten geballt, als hielten sie einen Traum fest und sanft strich ich ihr über den Schopf, der mit feinem rötlich-blonden Haar bedeckt war. Ihr zierliches Näschen krauste sich, als sie leicht nieste, ohne davon zu erwachen. Fürsorglich steckte ich die Decke um sie herum fest und konnte nicht aufhören, sie anzusehen. Ihr Mündchen machte im Schlaf kleine schmatzende Geräusche. Sie war einfach vollkommen und hingerissen strich ich ihr erneut über die feinen Härchen.

Völlig unerwartet hatte sich meine Mutter als erstaunlich hilfsbereit erwiesen. Sie hatte meine Schwangerschaft ziemlich kommentarlos zur Kenntnis genommen, nachdem ich allen erzählt hatte, dass der Vater einer der Partisanen war, die damals bei uns gewesen waren. Kurz vor und insbesondere nach der Geburt hatte sie jedoch die kleinen Strampelanzüge hervorgeholt, die wir Kinder einst getragen hatten, und mir vieles zu Kinderpflege erklärt und gezeigt. Ich hatte meiner Tochter den Namen „Mila" gegeben, weil er die dieselben Anfangsbuchstaben wie Mischa trug.

Mischa. Jetzt war er schon mehr als ein halbes Jahr fort und ich hatte nichts von ihm gehört. Noch immer herrschte Krieg, zwar seit langem nicht mehr in unserem Land, doch es wurde noch in Deutschland und in Asien gekämpft. Um nicht daran zu denken, was ihm auf dem Rückweg alles zugestoßen sein könnte, stellte ich mir oft vor, wie er unbehelligt zu Hause bei seiner Mutter ankam und dort erleichtert empfangen wurde. Ich hatte alle Bilder aufbewahrt, die wir gemeinsam gezeichnet hatten, und schaute sie zwischendurch immer wieder an, in Gedanken wieder die gemeinsamen Sommermonate durchlebend. Ich wünschte mir so sehr, ihn wieder zu sehen! Sobald der Krieg zwischen unseren beiden Ländern endlich beendet wäre, würde ich ihm einen Brief schicken. Und ihn mit einer Neuigkeit überraschen. Wie auf's Stichwort schlug Mila die Augen auf, nieste erneut und bewegte sich dann unruhig. Ich nahm sie auf den Arm und flüsterte ihr ins Ohr:

„Du hast den zärtlichsten und mutigsten Papa der ganzen Welt und er ist genauso hübsch wie du. Und bald wirst du ihn hoffentlich kennen lernen."

Statt mir mit großen Augen aufmerksam zuzuhören, fing Mila jedoch an zu weinen. Offenbar war sie der Meinung, dass irgendein unbekannter Papa gegenüber dem Hunger, den sie spürte, in den Hintergrund zu treten hatte. Daher verschob ich meine Erzählungen auf später und gab meiner hungrigen Tochter zu trinken.

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