Kapitel 101 ( Michael )

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Oktober 1960

Alles war wie immer und doch hatte sich etwas geändert. Thomas und ich gingen wie üblich jeden Morgen zu unseren Schulen, Gisela und Ingrid blieben zu Hause. Die Nachmittage waren angefüllt mit Unterrichtsvorbereitungen, während Gisela im Haushalt beschäftigt war und an den Wochenenden machten wir Ausflüge in die Umgebung oder empfingen Besuch. Thomas hatte ein paar Wochen nach dem Sommerurlaub noch öfters von Mila gesprochen, er war sehr angetan davon, eine große Schwester zu haben, die aufregenderweise noch dazu in einem entfernten Land lebte. Doch mit der Zeit schien dieses Thema für ihn seinen Reiz verloren zu haben, er erwähnte sie immer seltener.

Auch Gisela und ich schwiegen uns über Milas Existenz aus. Es war, als wäre das Treffen in Jugoslawien nur ein Traum gewesen, was wahrscheinlich auch genau in Giselas Sinne war. Widerwillig hatte sie die Tatsache akzeptiert, dass an einen Abbruch des Kontaktes nicht zu denken war, so gut, wie Mila und ich uns verstanden hatten. Wir hatten uns bisher ein, zwei Briefe geschrieben, doch Gisela zeigte leider nicht das geringste Interesse daran. Kommentarlos wurden die Briefe auf meinen Platz gelegt und obwohl ich sie am Tisch aufmachte und las, kam keine Nachfrage. Das betrübte mich mehr, als ich mir eingestehen wollte, obwohl ich sogar verstand, dass Gisela am liebsten alles verdrängte, was mit Mila zusammen hing.Doch auch meine Mutter zeigte sich gänzlich uninteressiert und war offenbar auf Giselas Seite.

„Du bist verrückt!", war der einzige Kommentar, den sie sich erlaubt hatte, als ich von dem Zweck der Reise nach Jugoslawien erzählt hatte.

Ansonsten hatte sie sich mit Bemerkungen zurück gehalten, anders als meine kleinen Schwestern. Nach der Rückkehr aus Jugoslawien fand ich Briefe von ihnen vor – offenbar hatte Mutter sie in Kenntnis gesetzt.

„Das ist ja so romantisch und aufregend!" hatte Hannah gefühlsbetont aus Stuttgart geschrieben, nicht ohne hinzuzusetzen:„Du musst mir nach deiner Rückkehr alles haarklein berichten!"

Romantisch – ich hatte den Kopf geschüttelt. Das konnte wirklich nur Hannah einfallen. Ich hatte sie direkt vor mir gesehen, wie sie mit neugierigem Augenaufschlag zu mir hinauf sah, um eine spannende Erzählung zu hören. Erika hingegen hatte etwas nüchterner, wenngleich wohlwollend kommentiert:

„Kümmere dich nicht darum, was Gisela und andere dazu sagen, sondern höre auf dein eigenes Gefühl. Wenn du deine fremde russische Tochter kennenlernen willst, dann lass dich davon nicht abhalten."

Erika war in Heidelberg mit einem Amerikaner verheiratet und wusste wahrscheinlich sehr gut, wovon sie sprach. Auch sie hatte von Freunden und Bekannten genug Vorbehalte zu hören bekommen, als sie begonnen hatte, sich mit einem amerikanischen Soldaten zu liieren und ihn dann sogar zu heiraten.

Ich sah von der Zeitung auf, die ich gerade las und seufzte leise. Trotz allem schien es für sie irgendwie einfacher gewesen, sich mit einem ehemaligen Besatzungssoldaten einzulassen. Ich fragte mich, wie man wohl in der Sowjetunion auf mich reagiert hätte, wenn ich dort eine Russin geheiratet hätte. Das führte meine Gedanken wieder einmal direkt zu Nadja. Sie ging mir einfach nicht aus dem Kopf, all meine Gedanken landeten am Ende immer unweigerlich bei ihr. Ich konnte mir noch so oft sagen, dass ich sie vergessen musste, doch es war, als weigerte sich mein Gehirn, diesen Entschluss zur Kenntnis zu nehmen.

Ich erhob mich und ging in die Küche, um mir ein Glas Wasser einzuschenken. Verdammt, jahrelang hatte ich kaum einen Gedanken an sie verschwendet und jetzt dies! Unsere letzte Begegnung spulte sich wieder und wieder in meinem Kopf ab. Ich sah ihre Augen voller Neugier auf mich gerichtet, sah ihre Lippen sich langsam zu einem Lächeln verziehend, das schließlich ihre Augen erreichte, hörte ihr fröhliches, unbeschwertes Lachen und spürte ihre Berührung auf meiner Haut. In ihrer Anwesenheit hatte ich mich wieder jung gefühlt, bereit, es mit allem aufzunehmen. Ich war ihr durch die Haare gefahren, die weich auf ihre Schultern hingen, hatte ihr zart über die Wangen gestrichen und den leichten Duft nach Vanille wahrgenommen, der sie umgab.

Verärgert riss ich mich jetzt zusammen und trank das Glas in einem Zug aus. Es war vorbei, endgültig vorbei. Nadja hatte das entschieden und sie hatte Recht damit. Wir hatten uns völlig verschiedene Leben aufgebaut, die nicht zusammen zu bringen waren und ein klarer Schnitt war daher das Beste, insbesondere in Anbetracht meiner Ehe. Was einst gewesen war, war vorbei, es gehörte nicht mehr in die Gegenwart. Und dennoch...ich hätte gern noch so vieles über sie erfahren.

Ich trat zum Fenster hinüber und blickte hinaus in den strömenden Regen, der perfekt zu meiner Stimmung passte. Ich hatte mich bei Nadja so angenommen gefühlt wie bei keinem anderen Menschen und sie war die Einzige, der ich je von meinen Wunschträumen erzählt hatte. Mit Bitterkeit dachte ich daran, dass ich alles für eine Arbeit aufgegeben hatte, die mir nur geringen Spaß brachte und nie zuvor hatte ich es so deutlich empfunden wie jetzt. Mir missfielen das Lärmen der Schüler und die desinteressierten Gesichter, die ich üblicherweise im Unterricht vor mir hatte. Kunst war ein Fach, das die meisten zum Abschalten von den anspruchsvollen Fächern nutzten, kaum jemand wählte es aus Neigung. Und auch ich tat nur, was vom Lehrplan verlangt wurde, für darüber hinausgehendes Engagement fehlte mir das Interesse.

Einmal hatte ich einen Lehrer auf einer Klassenreise vertreten müssen und erschöpft war ich davon zurück gekehrt, froh darüber, kein Klassenlehrer zu sein. Frustriert verzog ich die Mundwinkel, der Lehrberuf war eigentlich nicht das Richtige für mich, war es nie gewesen. Aber ich hatte geglaubt, keine andere Wahl zu haben. Nadja hatte keine Ahnung, wie sehr ich sie darum beneidete, dass sie genau das tat, was sie sich bereits als junges Mädchen zum Ziel gesetzt hatte. Es war schlichtweg bewundernswert, wie sie das mit einem Kind geschafft hatte. Wobei mir ehrlich gesagt die Vorstellung unangenehm war, dass ein Kind den ganzen Tag in der Kinderbetreuung verbrachte, fern von der Mutter, oder sogar ganz allein zu Hause.

Andererseits machte Mila nicht den Eindruck, darunter gelitten zu haben. Und natürlich hatte Nadja auch alleine gar keine andere Möglichkeit gehabt, es sei denn, sie hätte Mila auf dem Land gelassen. Ihr Leben unterschied sich wirklich sehr von meinem. Ich fragte mich, was sie jetzt wohl gerade tat. Dann fluchte ich leise. Ich musste sie endlich aus meinen Gedanken streichen! Wütend trat ich gegen den Ball, der in der Küche herum lag, so dass er mit Schwung unter die Eckbank rollte.

Dann ließ ich mich auf den Stuhl fallen und fuhr mir mit beiden Händen durch die Haare. Mit jedem Gedanken an Nadja vergrößerten sich meine Schuldgefühle, die ich seit der gemeinsamen Nacht gegenüber Gisela hegte. Ich hätte es niemals passieren lassen dürfen! Gisela hatte das nicht verdient. Sie war so, wie man sich eine Ehefrau nur wünschen konnte, fürsorglich, hübsch, humorvoll, eine aufopferungsvolle Mutter, führte perfekt den Haushalt und verstand sich obendrein gut mit meiner Mutter. Es fehlte mir doch wirklich an nichts.

Seit dem Urlaub tat ich mein Möglichstes, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen und sie mit kleinen Aufmerksamkeiten zu verwöhnen. Merkwürdigerweise reagierte sie jedoch stets nur verhalten, bedankte sich lächelnd, aber ohne die Begeisterung und Freude, die ich von früher von ihr kannte und ratlos fuhr ich mir mit der Hand über das Kinn. Mehr denn je suchte ich Giselas Nähe, doch kleine zärtliche Gesten, ein Streicheln der Wange, eine Umarmung, ließ sie eher über sich ergehen als sich wie sonst mir freudig zuzuwenden. Ich verstand das nicht. Einmal hatte ich sie gefragt, ob etwa sei, aber sie hatte mich nur mit großen Augen angesehen und erwidert:

„Was soll denn sein?"

Auf meine zögernd vorgebrachten Beobachtungen hatte sie die Achseln gezuckt, „Es ist nichts" gesagt und sich wieder ihrem Strickzeug zugewandt.

Frustriert hatte ich mich mit der Antwort zufrieden gegeben und mich einen Moment gefragt, ob ich mir alles nur einbildete.

Aus dem oberen Stockwerk hörte ich das gedämpfte Murmeln, das entsteht, wenn man jemandem etwas vorlas. Ich seufzte. Warum war es nur so schwer, Frauen zu verstehen? Es schien, als würde ich Gisela neu erobern müssen und ich war fest entschlossen, in meinen Bemühungen nicht nachzulassen. War es wirklich erst ein knappes Jahr her, dass ich von Milas Krankheit erfahren hatte und sich mein Leben – unser Leben – Stück für Stück verändert hatte?

Wenn Gisela und ich erst unsere vertraute und innige Beziehung zurück erlangt hätten, dann würde ich auch Nadja vergessen, davon war ich überzeugt. Es machte keinen Sinn, einem unerfüllbaren Traum nachzuhängen, zumal mir die Alternative Glück und Zufriedenheit bot. Ich hatte doch schließlich alles, was man sich nur wünschen konnte. Entschlossen stand ich auf und ging hinauf ins Kinderzimmer.

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