Kapitel 91 ( Nadja )

40 7 7
                                    

Als ich nach Hause kam, empfing mich Mila mit leuchtenden Augen, womit sie jeden Vorwurf, warum sie noch wach sei, im Keim erstickte. Ihre Wangen waren gerötet und sie schien sich nur mit Mühe zurückhalten zu können, während ich mich des Mantels und der Schuhe entledigte. Ich begann zu ahnen, was gleich darauf Gewissheit wurde.

„Er hat geschrieben", bemerkte Mila in einem betont lässigen Ton, aber ihr strahlendes Lächeln strafte der gespielten Gleichgültigkeit Lügen.

Ich hob die Augenbrauen und fragte ebenso ungerührt:„Ist das so?"

Dabei hatte sich meiner ebenfalls Aufregung bemächtigt, was ich aber vor meiner Tochter verbarg. Was mochte er geschrieben haben? Nach Milas Reaktion zu urteilen konnte es kaum etwas Negatives sein.

„Hier schau", erwiderte Mila und hielt mir einen Briefumschlag hin.

Ich sah sie an. „Bist du so gut und holst mir eine Tasse Tee?", bat ich.

Mila nickte und verschwand. Ich drehte den Umschlag auf den Kopf und schüttelte ihn, so dass der Inhalt, drei Fotos und ein Brief, auf das Sofatischchen fiel. Neugierig, doch gleichzeitig mit einer gewissen Hemmung nahm ich die Fotos auf. Das erste Bild zeigte einen Jungen mit Schultüte und daneben ein jüngeres Mädchen, die wohl seine Kinder waren. Das zweite Bild war ein wenig unscharf und zeigte eine kleine Gruppe von Menschen, die in gestellter Pose in die Kamera blickten. Ich erkannte Mischa und die beiden Kinder, die übrigen Personen waren eine ältere Dame und drei jüngere Frauen. Die Ähnlichkeit zweier von ihnen wies sie als Zwillinge aus. Dann waren die anderen beiden wohl seine Mutter und Ehefrau.

Aber es war das dritte Bild, auf dem ich verweilte. Es war eine Frontalaufnahme von Mischa. Er hatte noch immer blonde Haare, kurz geschnitten, aber seine Gesichtszüge waren deutlich älter, sein Kinn markanter geworden und er hatte sich einen leichten Bart wachsen lassen. Die Mundwinkel waren leicht zu einem Lächeln hochgezogen, als ob er sich über etwas amüsierte und seine Augen blickten aufmerksam in die Kamera. Er hat sich verändert, dachte ich, doch ich konnte in dem Bild noch Spuren des jungen entschlossenen Soldaten erkennen, in den ich mich damals verliebt hatte. Ich konnte den Blick nicht abwenden und sah für einen Moment den Mischa von einst an einem Heuballen gelehnt vor meinen inneren Augen entstehen.

Die gedankliche Reise in die Vergangenheit wurde von Mila unterbrochen, die mir eine Tasse Tee auf den Tisch stellte.

„Er sieht nett aus", stellte sie fest und setzte sich neben mir auf das Sofa.

„Ja denkst du denn, ich hätte mir einen unsympathisch aussehenden Menschen für dich als Vater ausgesucht?", zog ich sie auf.

Mila kicherte und reckte dabei das Kinn. In diesem Moment hatte sie viel Ähnlichkeit mit Mischa. Ich erinnerte mich an die ausgelassene Wasserspritzerei am See und glaubte wieder die Hitze auf der Haut zu spüren... süßer Vogel Jugend...

Ich gab mir einen Ruck. Nun aber Schluss mit der Erinnerungsmelancholie, schalt ich mich in Gedanken und griff nach dem Brief. Als erstes sprang mir das Bild ins Auge, das Mischa gemalt hatte: eine Meeresküste mit ans Ufer plätschernden Wellen und einigen Sonnenstrahlen, die aus einer Wolke hervor lugten und einen kleinen Kreis des Wassers beleuchteten. Es wirkte so lebendig, als würde man direkt am Strand stehen. Schade, dass Mila nichts von seinem Talent geerbt hatte.

„Mama!", gab Mila in einem Ton von sich, der kaum ihre Ungeduld verbarg, daher zog ich das zweite Blatt Papier hervor und las.

Als Mischa davon berichtete, dass er an einer Schule unterrichtete, zog ich unwillkürlich die Augenbrauen nach oben. Ich erinnerte mich, wie sehr er in sich geruht hatte, als er detailreiche Portraits von mir gezeichnet hatte, wie er so vollkommen in seiner Tätigkeit aufgegangen war, wie man es nur kann, wenn man mit Leib und Seele dabei ist. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mit solcher Intensität am Unterrichten war. Ehrlich gesagt hielt ich es außerdem für eine Verschwendung seines Talentes, aber wer war ich schon, das zu beurteilen, schließlich war mein Sachverstand auf diesem Gebiet nicht besonders ausgeprägt.

Weiter berichtete er von seinen beiden Kinder, dem siebenjährigen Thomas und der fünfjährigen Ingrid.

„Jetzt habe ich Halbgeschwister", kommentierte Mila, die mir beim Lesen über die Schulter geschaut hatte.

Ansonsten schrieb er von dem Haus seiner Mutter, in dem er mit seiner Familie wohnte, von Kaninchen im Garten und einer Katze, die ihnen zugelaufen war. Auch Mila hatte immer gern ein Haustier haben wollen, doch ich hatte ihr so einen Wunsch leider abschlagen müssen, weil unsere Wohnung einfach zu klein war. Dabei fehlte mir selbst der Umgang mit Tieren, ich wäre auch zu gern wieder einmal geritten. Doch man konnte eben nicht alles im Leben haben.

Schließlich legte ich den Brief wieder auf den Tisch und nahm einen Schluck Tee. Ich fragte mich, was nun kommen würde. Mila sank tiefer in das Sofa, zog die Knie an die Brust und fragte angelegentlich, ohne mich anzusehen:

„Wie sind die Leute in Deutschland eigentlich?"

„Warum fragst du mich das, Milotschka, du hast doch sicher genug über sie gehört", erwiderte ich und sah sie neugierig an.

„Aber Mischa war anders, oder? Sonst hättest du dich doch gar nicht in ihn verliebt", widersprach Mila und warf mir aus den Augenwinkeln einen Blick zu.

Ich seufzte leise.

„Ich habe ihn als einen sehr wunderbaren Menschen kennen gelernt, deshalb kann ich mir schwer vorstellen, dass er zu etwas Grausamen fähig gewesen wäre. Aber der Krieg macht was mit den Menschen... ich hatte ihn jedenfalls nie gefragt und es auch lieber gar nicht wissen wollen."

„Hm", machte Mila nach meiner langen Ausführung und nickte verständnisvoll.

Sie schwieg einen Moment lang und knabbertenervös an ihren Fingernägeln. „Mama..." begann sie gedehnt und sah michschließlich mit einem entschlossenen Blick an, „Ich... will ihn kennen lernen."

----------------------------

Kann dieser Wunsch Wirklichkeit werden?

Nächste Woche geht es weiter...

Schicksal ist, was dir passiertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt