Teil 40 ( Michael )

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Der Morgen begann zu dämmern, es wurde jede Minute heller und daher mittlerweile Zeit, ein Versteck für den Tag zu suchen. Müde setzte ich einen Schritt vor den nächsten. Es war die dritte Nacht, in der ich unterwegs war. Ich machte mich auf den Weg, sobald es Abend wurde, in der Hoffnung, dass nicht mehr viele Menschen unterwegs sein würden, und hielt erst an, wenn es zu dunkel wurde, um weiter zu gehen. Daraufhin fiel ich für ein paar Stunden in einen unruhigen Schlaf und wanderte schließlich weiter, sobald sich die Nacht wieder etwas aufhellte, um mich dann bei vollem Tageslicht wieder versteckt zu halten. Manchmal nickte ich dann leicht ein, war aber im Allgemeinen viel zu angespannt, um einzuschlafen.

Ich hielt mich immer parallel zum Fluss, wie Nadja mir aufgezeichnet hatte, aber kam leider nicht so schnell voran, wie ich gehofft hatte, da der beabsichtigte Weg mitten durch dichte Wälder führte. Einerseits reduzierte das die Gefahr, entdeckt zu werden, andererseits wurde das Gehen erschwert, da es keinen eindeutigen Pfad gab und permanent Gestrüpp zu durchdringen war. Weil ich das lange Gehen nicht mehr gewohnt war, schmerzten schon bald meine Füße und am linken Fuß hatte sich durch die schlecht sitzenden Schuhe eine Blase gebildet, so dass ich ein Loch in den Schuh geschnitten hatte, um weiter gehen zu können. Erschöpft hielt ich Ausschau nach einer Möglichkeit, mich für den Tag zu verbergen.

Irgendwann gewahrte ich eine dichte Böschung aus mehreren Tannen. Erleichtert ließ ich mich zwischen den Tannen nieder, die so dicht standen, dass sie mich gut verbargen. Es war eine Wohltat, mich der Schuhe zu entledigen und nachdem ich mich vergewissert hatte, dass man leicht genug an den Fluss kam, um Wasser zu schöpfen, kühlte ich meine heißen Fußsohlen mit dem restlichen Wasser aus meiner Flasche. Ich füllte sie anschließend sorgfältig wieder auf und aß die letzte Scheibe Brot. Von nun an würde ich mir immer etwas zu essen organisieren müssen.

Schläfrig lehnte ich mich gegen den Stamm einer Tanne und schloss die Augen. Sofort glitten meine Gedanken zu Nadja. Ich sah sie vor mir stehen, wie sie mich beim Abschied mit besorgten Augen und kummervollem Blick angesehen hatte. Ich konnte noch ihre Umarmung spüren, unseren letzten Kuss. Und ich hatte ihre Blicke in meinem Rücken wahrgenommen, als ich die Brücke über den Fluss betreten hatte, und hätte mich am liebsten nach ihr umgedreht gehabt. Doch ich hatte gewusst, dass ich dann nicht mehr die Kraft gehabt hätte, weiter zu gehen.

Sie fehlte mir, wie mir noch nie jemand gefehlt hatte: ihr Lächeln, ihre Albernheiten, ihre Zärtlichkeit. Ich bereute, dass ich nicht versucht hatte, sie zu überreden, mit mir zu gehen. Wie hatten wir uns nur trennen können! Ich fluchte leise. Ich hätte lieber meine Sicherheit riskieren sollen, als Nadja allein zu lassen. Doch jetzt war es zu spät. Ich schlug die Augen auf und wühlte im Sack herum. Dabei berührte ich etwas Hartes und zog zu meiner Überraschung das Medaillon heraus, das ich verloren geglaubt hatte. Meine Mutter hatte es mir als Glücksbringer gegeben, als ich in den Krieg gezogen war. Ich hatte zwei Fotos meiner Familie hineingelegt gehabt, aber als ich es jetzt öffnete, war es leer.

Beim weiteren Herumtasten entdeckte ich auch meine Armbanduhr. Nachdenklich hielt ich sie ein Weilchen in den Händen und dachte daran, wie Nadja sie mir abgenommen haben musste, als wir uns noch nicht kannten. Den Ärmel hochkrempelnd fiel mein Blick auf die kleine, aber noch feuerrote Narbe, die alles war, was von dem verfluchten Splitter übrig geblieben war. Ich fuhr mit dem Finger über die unebene Haut, aber spürte nichts mehr außer einem etwas unangenehmen Druckgefühl. Was in den Tagen meines Deliriums wohl passiert war? Ich konnte mich lediglich an wirre Fieberträume erinnern. Auch warum sie sich entschieden hatte, mir das Leben zu retten, wusste ich nicht. Ach Nadja! Ich versank für einen Moment in Erinnerungen...

Schließlich band ich mir die Armbanduhr wieder um, obwohl die Zeiger längst stehen geblieben waren, und griff noch einmal in den Sack hinein, bis ich den Zettel mit Nadjas Adresse in den Händen hielt. Ich starrte auf die fremden Buchstaben und schickte ein stilles Gebet gen Himmel mit der Bitte, Nadja wieder zu sehen, sobald der Krieg beendet wäre.

Schicksal ist, was dir passiertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt