Kapitel 124 ( Nadja )

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Mai 1966

Mit jedem Kilometer näherte sich der Zug dem Ziel meiner Reise. Ich freute mich so sehr auf ein Wiedersehen mit Mischa, das es kaum auszuhalten war, doch die Zeit verging quälend langsam. Gleichzeitig zog sich mein Magen zusammen, wenn ich daran dachte, dass ich schon bald Mischas Mutter und Schwestern gegenüber stehen würde. Und das war nur der Anfang, denn in genau fünf Tagen würde ich noch mehr seiner Verwandten kennenlernen.

Nervös spielten meine Finger mit dem Verschluss der Handtasche. Als kleines Mädchen hatte ich mir immer eine große Hochzeit gewünscht, aber jetzt wäre mir eine Trauung im allerkleinsten Rahmen lieber gewesen, da weder Verwandte noch Freunde aus der Sowjetunion dabei sein konnten. Angesichts Mischas Vorfreude bei der Planung, während der er mir mehrfach versichert hatte, dass sich alle freuten, mich kennenzulernen ( er meinte es gut, aber das machte es mir noch schwerer, ohne Angehörige zu feiern ), und der Tatsache, dass für ihn als gläubiger Mensch eine rein standesamtliche Trauung nicht in Frage kam, hatte ich ohne langes Zögern einer größeren Feier zugestimmt. Doch nun machte ich mir täglich mehr Gedanken.

Unwillkürlich fröstelte ich ein wenig, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme schutzsuchend vor meinem Körper. Was, wenn sie mich genauso ablehnen würden wie Mischa von meinen Verwandten abgelehnt wurde? Mischa hatte versucht, meine Befürchtungen zu zerstreuen.

„Dann hätten sie nicht unsere Einladung angenommen", hatte er überzeugend begründet. Doch meiner Angst war schwer mit Logik beizukommen.

Der mir gegenüber sitzende Herr warf mir einen verwunderten Blick zu, anscheinend hatte ich nicht nur in Gedanken geseufzt. Ich lächelte ihn entschuldigend an und wandte dann den Blick ab, um aus dem Fenster zu schauen. Papier knisterte und raschelte, als mein Gegenüber in dem riesigen Lederrucksack wühlte, den er neben sich auf den Sitz gestellt hatte, bis schließlich ein süßer Duft nach Äpfeln durch das Abteil zog.

Ich begriff erst beim zweiten Mal, dass er mich angesprochen hatte und nahm gern den angebotenen Apfel entgegen. Er war schon etwas schrumpelig, aber hatte einen köstlichen Geschmack. Mit einem kräftigen Krachen biss er in seinen Apfel, und ich lächelte ihn dankbar und verlegen an, während wir beiden unsere Äpfel verspeisten. Etwas zu sagen traute ich mich nicht.

Unauffällig taxierte ich ihn. Er sah nicht aus wie ein Landwirt, er trug leicht staubige Schuhe, aber einen gepflegten hellen Anzug. Vielleicht ein Vertreter, ging es mir durch den Kopf und ich überlegte, was er wohl in seinem Rucksack haben mochte. Freundlich lächelnd stellte er mir eine Frage, von der ich nur das Wort „Bremen" verstand, er hatte zu schnell gesprochen, als dass ich eine Chance gehabt hätte, ihn zu verstehen. So zuckte ich nur entschuldigend mit den Schultern. Er nickte mir daraufhin noch einmal freundlich zu und entblätterte schließlich seine Zeitung.

Auch ich hätte zu meinem Buch greifen können, doch ich war viel zu unruhig, um mich darauf zu konzentrieren. In fünf Tagen würde ich Frau Berger sein. Würde sich damit mein Leben verändern, mehr noch als bereits die Migration in die Schweiz mein Leben verändert hatte? Was würde es bedeuten, Ehefrau zu sein? Seit ich erwachsen war, war ich auf mich allein gestellt gewesen – mit allen Schwierigkeiten, aber auch der Freiheit, die damit einher ging. Für einen Moment erlaubte ich mir an der Weisheit meiner Entscheidung zu zweifeln.

Doch dann strich ich mit den Fingerspitzen zart über den Verlobungsring, einen schlichten goldenen Reif, auf den Mischa noch in Minsk bestanden hatte, und mit einem Mal stand sein Gesicht vor meinen Augen, sein strahlendes Lächeln, die Liebe, die aus jeder seiner Gesten sprach und ich erinnerte mich an das Gefühl der Geborgenheit in seiner Gegenwart und daran, als Person voll und ganz angenommen und akzeptiert zu sein. Das wischte alle Bedenken fort. Es war der richtige Weg. Ein Gefühl unendlichen Glücks stieg in mir auf und ich ließ mich zurück in das Polster sinken und schloss lächelnd die Augen. In ein paar Tagen würde Wirklichkeit werden, was ich dereinst nur erträumt hatte

Schicksal ist, was dir passiertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt