Teil 82 ( Michael )

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Ich erzählte ihr alles. Angefangen von meiner Verletzung und Flucht von der Front über das Kennenlernen von Nadja und die sich danach entwickelnde Beziehung zwischen uns bis zu Nadjas Brief, in dem sie von unserer gemeinsamen Tochter berichtet hatte. Und von der Tatsache, dass ich jedes Jahr ein Bild für Mila nach Minsk geschickt hatte. Es fühlte sich nach einer Weile gut an, mir alles von der Seele reden zu können. Gisela unterbrach mich kein einziges Mal. Als ich geendet hatte, schwieg sie so lange, dass ich unruhig wurde.

„Ich verstehe das nicht", presste sie schließlich hervor. „Warum hast du mir das nicht erzählt, als wir uns kennen lernten?"

Ich schob unruhig ein Glas auf dem Tisch beiseite.

„Das ist doch alles Vergangenheit", wandte ich ein. „Das hat doch nichts mit dir zu tun."

„Um so eher hättest du es mir erzählen sollen", erwiderte sie mit einer schneidenden Stimme, die ich gar nicht von ihr kannte. „Herrgott, Michael, du hast eine 14jährige Tochter, der du jedes Jahr Briefe schickst. Und dann sagst du mir allen Ernstes, das ist Vergangenheit?!", explodierte Gisela schließlich.

Wütend tat sie ein paar Schritte zum Fenster und wandte sich dann wieder zu mir um:„Die Tatsache, dass du sie mir verheimlicht hast, zeigt wohl eher, dass sie sehr wohl mehr Bedeutung für dich hat, als du vorgibst!"

Möglicherweise hatte sie Recht damit und ich fühlte mich auch schuldig – was mich aber paradoxerweise nun ebenfalls wütend machte. Ich stand auf und schrie zurück:

„Was willst du eigentlich? Ich habe dich geheiratet und ziehe unsere beiden Kinder groß und bin hier bei dir und bei ihnen. Während Mila weit weg in Weißrussland ist."

Wieder sah mich Gisela lange schweigend an, ohne dass ich eine Ahnung hatte, was in ihrem Kopf vorging. Schließlich warf sie mir schnippisch ein „Ich gehe jetzt ins Bett und komm bloß nicht auf die Idee, mich zu wecken!" zu und verließ die Küche. Ich lauschte den sich entfernenden Schritten und ließ müde den Kopf in die Hände sinken.

Ich lag im Bett, aber konnte nicht einschlafen, sondern grübelte darüber nach, was Gisela gesagt hatte: Dass mir Mila wichtiger war als ich zugab. Ich dachte eigentlich selten über sie nach. Meistens immer dann, wenn ihr Geburtstag bevor stand und ich mich fragte, wie sie jetzt wohl aussähe. Oder an den beiden Malen, an denen eine Neujahrskarte aus Minsk gekommen war. Mutter hatte sie mir hastig mit einem „Ich will damit nichts zu tun haben"-Blick in die Hand gedrückt. Ich hatte mich darüber gefreut, denn sie schienen mir zu zeigen, dass meine Geburtstagsgrüße noch willkommen waren.

Oder gelegentlich, wenn Ingrid oder Thomas etwas Neues wie zum Beispiel Roller fahren gelernt hatten, dann dachte ich darüber nach, wie es für Nadja gewesen war, neue Entwicklungsschritte von Mila mitzuerleben. Aber eigentlich war die Liebe zu Nadja nur noch eine ferne Erinnerung. Und die Tatsache, dass ich weit entfernt eine Tochter hatte, unbedeutend.

Ich drehte mich leise auf den Rücken und starrte an die dunkle Zimmerdecke. Doch warum hatte ich nicht aufgehört, Briefe zu schreiben, obwohl ich seit Jahren nichts mehr aus Minsk gehört hatte? Und warum hatte ich Mila vor Gisela verheimlicht? Als ich Gisela kennengelernt hatte, wollten wir vor allem in die Zukunft schauen und die Schrecken der Naziherrschaft und des Krieges vergessen.

Einmal hatte sie mich mit vorsichtigem Blick nach meinen Fronterlebnissen gefragt, doch ich hatte nur abgewehrt – ich wollte vergessen und verdrängen, was ich damals im Krieg erlebt hatte. Ich hatte nervös ganz kurz von meiner Flucht vor der Front berichtet, und mich mit einem Seitenblick zu ihr vergewissert, dass sie mich nicht dafür verurteilte, und von einer Weißrussin erzählt, die mich versteckt und meine Verletzung versorgt hatte. Ich wusste noch, dass ich es absichtlich so hatte klingen lassen, als wenn diese Weißrussin ein altes Mütterchen gewesen wäre statt eines jungen Mädchens, denn frisch verliebt wie ich war, wollte ich alles vermeiden, was unser Glück hätte trüben können.

Gisela hatte zu meiner Erleichterung keine weiteren Fragen gestellt. So hatte ich die genauen Ereignisse aus dem Sommer 1944 für mich behalten und nach unserer Hochzeit entschieden, die Vergangenheit weiter ruhen zu lassen, um mir den Vorwurf zu ersparen, dass ich Gisela die wahren Begebenheiten nicht vor unserer Ehe mitgeteilt hatte. Es war genau das, was sie mir heute Abend vorgeworfen hatte. Ich konnte ihr ihren Ärger daher nicht verdenken. Ich sah zu ihr hinüber, sie schlief tief und fest. Es war ein Fehler gewesen, ihr nicht von Nadja und Mila berichtet zu haben, das wurde mir jetzt klar. Der Spruch meiner Mutter aus meiner Kindheit kam mir in den Sinn: „Lügen haben kurze Beine". Ich seufzte schwer. Morgen früh würde ich noch einmal mit Gisela reden und um ihr Verständnis bitten. Und ich hoffte sehr, dass sie mir das Geheimnis um Mila verzieh.

Schicksal ist, was dir passiertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt