Teil 65

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Meine Stimmung war dauerhaft auf dem Tiefpunkt und genauso verhielt ich mich auch. Alle im Haushalt bekamen es zu spüren und fast jeder Wortwechsel endete in gereizten Tönen. Keiner war in diesem unsicheren Alltag entspannt genug, mit Gelassenheit oder Humor zu reagieren oder auf Befindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. Es war von morgens bis abends eine Plackerei, um über die Runden zu kommen, und in der gemeinsamen Wohnstube, in der wir alle nächtigten und uns auch sonst aufhielten, führte die tägliche Erschöpfung und der Mangel an Privatleben zu mancher Auseinandersetzung. Ich war der Einzige mit Zeit zur Verfügung, da ich keiner Beschäftigung nachging, und das trug einen nicht unerheblichen Teil zu meinem Missfallen – und dem meiner Schwestern – bei.

Paradoxerweise sah ich mich gleichzeitig außer Stande, mich um eine die Familie unterstützende Tätigkeit zu bemühen. Ich spürte die Erwartungen der anderen, in Ermangelung unseres Vaters die Rolle des Haushaltsvorstandes einzunehmen und entsprechend für die Familie zu sorgen, doch ich sah einfach keinen Sinn mehr in der Bewältigung eines Alltages, der sich drastisch von früher unterschied und ohne die frohe Gewissheit, dass Nadja auf mich wartete.

Bei jedem Stoppen des Briefträgers vor unserem Haus hoffte ich, unter dem äußeren Mantel der Gleichgültigkeit, aber ich glaubte schon nicht mehr daran, noch einen Brief von Nadja zu erhalten. Der Krieg war seit einem halben Jahr vorbei und der Postverkehr funktionierte schon seit langem wieder. Wenn sie jetzt nicht schrieb, dann weil sie nicht wollte – oder nicht konnte. Und ich musste mich widerwillig daran gewöhnen, dass die Zukunft völlig anders aussah, als ich sie mir vorgestellt hatte.

Ganz zu schweigen von den Veränderungen in Deutschland, die damit begannen, dass man sich mit „Guten Tag" statt „Heil Hitler" begrüßte, was zumindest insofern unproblematisch war, als dass ich diese Begrüßung seit über einem Jahr nicht mehr gebraucht hatte. Allerdings hatte das Leben jegliche Struktur verloren. Jahrelang war der Tag bis ins Kleinste durchgeplant gewesen und ich war dazu erzogen worden, das zu tun, was mir gesagt worden war, in der Hitlerjugend, im Reichsarbeitsdienst, in der Wehrmacht. Lediglich auf meiner Reise nach Hause war ich frei von Anweisungen gewesen, aber auch nur für mich selbst verantwortlich gewesen. Nun sollte ich jedoch Entscheidungen für den ganzen Haushalt treffen. Ich hätte mich stolz fühlen können, aber tatsächlich war ich damit einfach nur überfordert.

Und so tat ich das, was mir in Anbetracht der Situation am besten erschien, nämlich gar nichts. Keine Entscheidung bedeutete keine Verantwortung. Dabei wäre ich mit Freuden ein gemeinsames Leben mit Nadja angegangen und hätte Verantwortung für sie übernommen, doch das hatte sich ja in Luft aufgelöst. Und auf meine Familienangehörigen erstreckte sich diese Einstellung nicht.

So saß ich oft Stunde um Stunde am Küchentisch vor dem Fenster, ohne mehr zu tun als den Kohlenofen am Laufen zu halten und zu grübeln. Und ich hatte auch kein Verlangen danach, Pinsel oder Stift in die Hand zu nehmen. Nach mehreren Wortgefechten bequemte ich mich schließlich, wenigstens ein paar Ausbesserungsarbeiten im Haus vorzunehmen. Ich begriff nicht, wie sich die anderen so rasch auf das neue Leben unter den Tommys einstellen konnten, aber ich war zu stolz, darüber mit ihnen zu reden.

„Was bist du eigentlich für ein Mann, dass du dich von uns allen durchfüttern lässt!", warf mir Hannah einmal wütend vor, doch selbst das war mir gleichgültig.

Ich sah Mutters Verzweiflung angesichts meiner Lethargie, aber ich konnte nicht anders.

So ging das ein paar Wochen, bis ich eines Tages von einem Besuch in Bremen heimkehrte. So vieles war zerstört worden, dass es schwierig gewesen war, bekannte Straßenzüge zu entdecken. Dann hatte es auch noch angefangen gehabt zu regnen, ein nasskalter, alles durchdringender Regen, der von stürmischen Böen begleitet wurde, doch das hatte mich nicht im Geringsten gestört. Ich kam erst bei anbrechender Dunkelheit zurück nach Hause, denn es zog mich nichts in die von zu vielen Personen bevölkerte Stube. Einsamkeit war, was mir gut tat, jedenfalls bildete ich mir das ein.

Als ich durch die Tür schlüpfte, drehten sich gleichzeitig mehrere Köpfe zu mir, um sich dann gleich wieder verstohlen abzuwenden. Irritiert zog ich die durchnässte Jacke aus und breitete sie zum Trocknen aus. Ich hatte den starken Eindruck, dass gerade über mich gesprochen worden war. Die Zwillinge wandten mir schließlich den Köpfe zu und es dauerte nicht lange, bis Erika neugierig fragte:

„Wer ist die Frau auf dem Bild?"

Sie hielt ein Blatt Papier vor sich. Es war das Portrait von Nadja, das ich vor einigen Wochen gezeichnet hatte. Ärger wallte in mir auf; ich hatte das Bild in einer Schublade unter dem Dach gelassen, wie war sie daran gekommen? Wahrscheinlich war mir der Ärger vom Gesicht abzulesen, denn Hannah beantwortete meine unausgesprochene Frage entschuldigend mit: „Ich habe es gefunden, als ich unter dem Dach nach Holzresten zum Heizen gesucht habe". Das besänftigte mich jedoch nicht, es war wie früher, als sich die Mädchen ungefragt an meinen Sachen vergriffen hatten.

Unwirsch knurrte ich daher:„Gib her!" und versuchte Erika das Bild aus der Hand zu nehmen, ohne es zu zerreißen.

In einer geschickten Bewegung drehte sie sich jedoch von mir weg und rief foppend:„Erst wenn du mir sagst, wer das ist!"

Mir stand absolut nicht der Sinn nach solchen Spielchen und in zwei langen Schritten war ich bei ihr. Aber nicht schnell genug, um zu verhindern, dass Erika aufsprang und hinter den Tisch huschte. Von früher wusste ich, dass es der erfolgreichste Weg wäre, Desinteresse zu heucheln, aber diese Gelassenheit besaß ich derzeit nicht. Drohend baute ich mich an der gegenüberliegenden Tischseite auf: „Gib sofort her, sonst..."

Erika ließ sich nicht einschüchtern, sondern sah mich herausfordernd an:„Sonst...?"

Ich hätte sie damals öfters mal versohlen sollen, ging es mir verärgert durch den Kopf, während ich gleichzeitig überlegte, wie ich meine Drohung beenden könnte.

Aus der anderen Ecke der Stube ließ sich Mutters vorwurfsvolle Stimme vernehmen:„Erika!"

Missmutig zog Erika die Stirn kraus, legte das Bild vor sich auf den Tisch, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte mich schmollend an. Ich schnappte mir endlich das Portrait und rollte es vorsichtig zusammen.

„Nun sag doch mal", bat Hannah sanft und machte eine Bewegung, als wollte sie mir die Hand auf die Schulter legen, unterließ es im letzten Moment jedoch.

Ich hatte wenig Lust, Details preiszugeben, doch mir war klar, dass ich ohne eine kurze Erklärung heute keine Ruhe bekommen und den nächsten Konflikt provozieren würde. Wir waren einfach zu viele Erwachsene auf einem Haufen und das ging immer weniger gut. Mir kam in den Sinn, was ich heute Morgen von dem Tischler Heinemann gehört hatte. Sein Bruder in Ostfriesland suchte einen Helfer für seinen Bauernhof... Hannah sah mich unverändert fragend an.

Ich gab mir einen Ruck:„Das ist die Frau, die mir in Russland das Leben gerettet hat", gab ich knapp von mir. Und fügte schließlich zusammengepresst hinzu:„Mit der ich mir ein gemeinsames Leben aufbauen wollte."

Dann verschwand ich ohne ein weiteres Wort in die Küche und schloss die Tür gegenüber der in tiefes Schweigen gefallenen Familie.

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Die zerplatzte Hoffnung, die die Bewältigung des Alltags schwierig macht, zusammen mit dem Druck, seinem Mann zu stehen und für die Familienangehörigen zu sorgen...

Im nächsten Kapitel erfahrt ihr, wie sich Nadjas weitere Lebensweg entwickelt.

Schicksal ist, was dir passiertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt