Teil 89 ( Nadja )

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Die Wasseroberflächte glänzte in der Sonne und ab und zu kräuselte eine kleine Brise das Wasser. Der Gesang unzähliger Vögel war zu hören. Ich hatte die Schuhe ausgezogen und genoss das Gefühl der weichen Erde unter meinen Sohlen. Als eine Welle über meine Füße lief, zuckte ich zusammen. Es war noch kalt, aber die die warmen Sonnenstrahlen auf der Haut ließen bereits den Frühling erahnen. Laut schnatternd flog ein Paar Gänse über den See. Ich schloss einen Moment die Augen und ließ die Geräusche des Waldes auf mich wirken. Die nächste Welle trieb mich einige Schritte rückwärts, denn schnell waren meine Füße kalt geworden. Doch ich weigerte mich, meine Schuhe und Strümpfe schon wieder überzustreifen. Ich sank in weiches Moos und wandte meinen Blick nordwärts. Wo einst eine kleine Lichtung gewesen war, streckten sich inzwischen einige Bäumchen gen Himmel und zwischen ihnen wuchsen Büsche und Farne. Wie sehr es sich verändert hatte. Mir fiel ein, dass ich die Stiefel, die ich damals versteckt hatte, schließlich ganz vergessen hatte. Der Platz, an dem ich sie verborgen hatte, war nicht mehr auszumachen. Ob sie mal jemand gefunden hatte? Oder ob sie zum Besitz der Natur geworden waren?

Ich nahm meine Schuhe in die Hand und schlängelte mich zwischen den Bäumchen hindurch zu der Stelle, wo ich den Baum vermutete, an dem Mischa damals gelagert hatte. Meine Blicke streiften Büsche und Sträucher, doch bis auf den See erinnerte eigentlich nichts mehr an damals. Ich sah zurück zu dem Weg, der am Ufer endete, wo Mila geduldig wartete. Als sie meinen Blick auffing, kam sie langsam herüber geschlendert.

„Kenne ich diesen See?", fragte sie, aber ich schüttelte den Kopf.

„Du warst noch zu klein. Nach dem Krieg hatten wir kein Pferd mehr und der Weg wäre für dich zu weit gewesen."

Belustigt sah Mila auf meine immer noch bloßen Füße hinunter.

„Ist dir nicht kalt?"

„Ein bisschen", gab ich zu. „Aber damals war ich das gewohnt."

Dann schwiegen wir beide. Ich sah Mila an, die den See betrachtete.

„Warum hast du nach Deutschland geschrieben?", wollte ich wissen.

Mila blieb so lange still, dass ich schon dachte, sie hätte sich entschieden, nicht zu antworten. Als sie sich schließlich zu mir drehte und auf meine Frage einging, tat sie es mit einem ungewohnt schüchternen Blick.

„Ich möchte wissen, wie er ist", antwortete sie leise. Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu:„Tut mir leid, dass ich mich gestern verplappert habe."

„Na ja, es ist wie es ist", gab ich diplomatisch von mir, um zu verhindern, dass sie sich Schuldgefühle machte. „Wahrscheinlich wäre es sowieso irgendwann heraus gekommen. Zum Glück haben wir unter Chruschtschow andere Zeiten."

Igor hatte gestern Abend schließlich seine Aggressivität wieder abgelegt, aber nur noch in kühlem Ton mit mir gesprochen und sein Unverständnis meines Handelns noch einmal deutlich gemacht.

„Wir wollen nie wieder darüber sprechen. Zu niemandem", hatte Mutter schließlich beschieden und mit einem bösen Blick in die Runde geschaut, als hätte es jemand wagen wollen, ihr zu widersprechen.

„Sehe ich ihm eigentlich ähnlich?", unterbrach Mila meine Gedanken.

Ich betrachtete sie einen Moment und erwiderte dann: „Du hast die glatten, blonden Haare von ihm und deine Statur und Größe ... und bist ja jetzt schon so groß wie ich. Bei uns in der Familie sind alle eher klein."

Mila lächelte erfreut. „Ich finde es gut, groß zu sein. Und weißt du etwas über seine Familie?", fragte sie weiter.

Ich bückte mich und zog meine Schuhe wieder an, denn inzwischen waren meine Füße eiskalt geworden.

„Ich weiß nur von einer Mutter und zwei jüngeren Zwillingsschwestern", berichtete ich dann bereitwillig, als ich mich wieder aufgerichtet hatte.

„Ich werde ihn alles fragen", beschloss Mila.

„Erwarte nicht zu viel", warnte ich sie, „ich glaube nicht, dass er antwortet. Er hat schließlich bereits eine Familie in Deutschland."

Mit Überzeugung in der Stimme gab sie zurück:„Er wird antworten. Du wirst schon sehen!"

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Und - was meint ihr, wer von beiden behält Recht?

Schicksal ist, was dir passiertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt