Kapitel 17 - Deep End

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(POV Brien):

Da es inzwischen bereits dämmerte und in kurzer Zeit dunkel sein würde, hatten Miriam und ich uns getrennt, um Feuerholz zu suchen, damit wir es in der Nacht warm und sicher hatten. Wobei sicher konnte man es eigentlich nicht nennen, wenn ein zerstörerisches Wesen um mich herum spukte. Warum hatte ich sie bloß nicht einfach ausgeschaltet, wie ich es vorgehabt hatte? Unser Plan würde ohne meine Zauberkräfte nicht funktioniere, das hatte ich schon gewusst, bevor sie es gesagt hatte und wenn ich ehrlich war, wusste ich, dass sie mich früher oder später erneut attackieren würde. Und wer wusste, ob ich dann auch wieder so unverletzt davon kommen würde? Aber was sollte ich tun? Sie zu töten brachte ich einfach nicht übers Herz und ich konnte sie auch nicht einfach irgendwo einsperren wie ein wildes Tier.

Verzweifelt ließ ich mich auf einem umgekippten Baumstamm nieder und strich mir eine widerspenstige Locke hinters Ohr. Wo war Laurel bloß? Er musste doch hier ganz in der Nähe sein, er hätte schon längst ihre Fährte aufnehmen müssen. Mit ihm an unserer Seite hätten wir vielleicht eine Chance und selbst wenn nicht, würde ich ihn einfach gerne wieder sehen. Er war der Grund, warum ich hier war. Er war der Grund, warum ich mein altes Leben aufgegeben hatte. Ob er sich verändert hatte? Würde ich ihn überhaupt wieder erkennen? Seit unserer letzten Begegnung waren immerhin drei Jahre vergangen. Was wäre, wenn er mich schon längst vergessen hatte? Wenn ich ihm nichts mehr bedeutete? Hatte ich ihm überhaupt jemals etwas bedeutet?

Seufzend ließ ich meinen Kopf in meine Handflächen fallen und schloss für einen Augenblick die Augen. Ich spürte die kühle Herbstluft um mich herum und hörte die Blätter rascheln, die vom Wind aufgewirbelt wurden. Nach einer Weile öffnete ich die Augen wieder und stand auf. Es hatte kein Sinn, sich hier im Selbstmitleid zu verlieren, ich musste nach vorne Blicken und vielleicht war Laurel ja schon längst bei Miriam und hatte sie gefunden. Gedankenverloren ging ich weiter und hielt nach geeigneten Ästen ausschau, die trocken genug waren, um zu brennen.

Nach einer Weile hatte ich einen ganz schönen Stapel zusammen und wollte mich gerade auf den Weg machen, Miriam zu suchen, als ich aus dem Augenwinkel etwa wahrnahm. Durch ein paar Bäume neben mir schien ganz deutlich das Licht durch, sodass es dort nicht so dunkel war, wie unter dem Blätterdach. Ich war inzwischen am Waldrand angekommen. Ich wechselte meine Richtung. Irgendwie wollte ich wissen, was hinter diesem Wald lag.

Als ich den Wald verlassen hatte, stockte mir beinahe der Atem. Hier war eine große steinige Klippe, unter der das Meer lag. Es erstreckte sich bis zum Horizont und ich konnte ein paar wenige Vögel sehen, die dicht über dem Wasser flogen und darauf warteten, dass ein Fisch daraus sprang. Hier war der Wind viel stärker und die Luft deutlich frischer. Ich stellte mich auf den Rand der Klippe und breitete die Arme aus. Meine schwarzen Locken wehten mir um die Ohren und ich hatte Mühe, sie zu bändigen. Eine halbe Ewigkeit stand ich dort und dann trat ich wirklich den Rückweg an.

Doch als ich gerade den Wald betreten wollte, sah ich zu meiner Rechten eine Gestalt am Boden liegen. Neugierig ging ich näher heran und als ich die Person erkannte, setzte mein Herzschlag für einen kurzen Moment aus.

Ich erkannte seine schneeweißen, zotteligen Haare, seine dichten, dunklen Augenbrauen, seine schmale Nase, seine hohen Wangenknochen und seine Lippen, die einen leicht rosafarbenen Glanz hatten. Seine Augen waren geschlossen und sein Körper war mit dunklen Flecken voller Finsternis befleckt, die ihn jedoch nicht weniger schön aussehen ließen. Mit weichen Knien kniete ich mich neben ihn auf den Boden und strich ihm mit meinen Fingerspitzen vorsichtig über die Wange. Seine Haut war eiskalt, doch das war sie schon immer gewesen, sogar im Hochsommer. Bei dem Gedanken an die vielen Sommer, die wir zusammen verbracht hatten, musste ich lächeln, auch wenn mir gerade überhaupt nicht danach war.

„Hey, Engel", flüsterte ich so leise , dass es beinahe nur ein Wispern war.

Ich spürte, wie sich eine einzelne Träne langsam aber sicher ihren Weg an meinem Gesicht hinunter bahnte. Ja, ich hatte gehofft, ihn wieder zu sehen, aber nicht so. Nicht auf diese Weise. Eigentlich war mir gerade danach, laut zu schreien, zu weinen und mich die Klippe hinunter zu stürzen, doch ich tat nichts dergleichen. Ich saß einfach nur hier auf dem Boden. Unfähig, etwas zu sagen, zu tun oder zu fühlen. In mir war irgendwie nur eine Leere, von der ich nicht sagen konnte, wie sie sich anfühlte, denn im Moment spürte ich überhaupt nichts. Ich spürte nicht den kalten Wind oder die salzige Meeresluft. Ich spürte einfach nichts. Überhaupt nichts.

Schattenflügel - Verwandlung bei VollmondWo Geschichten leben. Entdecke jetzt