Kapitel 2 - Das Mädchen

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Als Miriam die langen Treppen hinauflief und schließlich vor ihrem Turmzimmer ankam, saß vor der hölzernen Tür ein kleines Mädchen. Es war nicht älter als fünf Jahre und in einer seiner kleinen Hände hielt es einen Teddybären, dessen viele Löcher, nach den Nähten zu urteilen, schon oft geflickt worden waren. Die lockigen, dunkelbraunen Haare des Mädchens waren zu zwei Zöpfen zusammengebunden und es trug ein rosafarbenes Kleid, dass mehrere blaue und grüne Punkte hatte. Jetzt schaute das kleine Mädchen zu Miriam herauf und seine großen runden Augen sahen zu tiefst traurig und einsam aus. Miriam sah das Mädchen nur für den Bruchteil einer Sekunde, doch es kam ihr vor wie eine halbe Ewigkeit. Dann war es plötzlich verschwunden und Miriam öffnete die Tür.

Als sie eintrat, saß Josie auf ihrem Bett und telefonierte noch immer. Sie hatte ihr Handy am Ohr und gab ihrer Freundin ein Handzeichen, dass sie gleich fertig sein würde. Leise schlich sie an ihr vorbei und durch eine kleine Tür ins Badezimmer, dass sich die beiden Freundinnen teilten. Dort stellte sich Miriam vor den Spiegel und öffnete den Zopf, den Josie ihr am Morgen geflochten hatte. Sie ließ ihre hellblau gefärbten Haare offen auf ihre Schultern fallen und kämmte sie mit einem Kamm etwas durch. Dann betrachtete sie sich noch etwas im Spiegel. Ihr gefiel die Farbe, mit der sie ihre Haare gefärbt hatte, denn sie passte wunderbar zu ihren grauen Augen und ihren wilden Sommersprossen, die überall auf ihrer Nase verteilt waren. Ihre Haare waren sehr dick und schulterlang, jedoch ganz glatt und so ordentlich gekämmt sah Miriam wie ein braves kleines Schulmädchen aus.

Miriam ging zurück zu Josie ins Zimmer und sah, dass ihre Freundin fertig telefoniert hatte und nun erschöpft auf dem Bett lag. Mit geschlossenen Augen fragte sie schläfrig: „Haben wir irgendwelche Hausaufgaben zu Morgen auf?" Miriam überlegte kurz. Dann sagte sie: „Nein, ich glaube nicht." Josie schien gleich viel wacher. Fröhlich meinte sie: „Cool, was machen wir noch mit dem Resttag?" Miriam zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, schlag was vor." Doch auch Josie wusste nicht so richtig, was sie mit dem restlichen Tag anfangen sollten. Schließlich gingen die beiden Mädchen in eine der Turnhallen des Internats und bauten sich eine Tischtennisplatte auf. So spielten sie eine ganze Zeit Tischtennis, bis Josie auf einmal unauffällig mit dem Kopf zur Tür der Turnhalle deutete. Miriam schaute herüber und dort stand Laurel und beobachtete sie. Miriam wusste nicht was sie sagen sollte und so rief sie zu ihm herüber: „Möchtest du mit uns spielen?" Doch Laurel antwortete nicht. Er drehte sich um und ging dann weg. Josie flüsterte leise zu Miriam: „Ich sag's doch, der Typ ist mir unheimlich. Irgendetwas führt er im Schilde." Doch Miriam schüttelte den Kopf. „Quatsch", sagte sie. Dann fuhr sie fort: „Ich glaube er wollte mitspielen." Josie zog eine Augenbraue hoch. „Und warum hat er uns dann nicht gefragt?" Miriam schwieg. „Vielleicht ist er stumm." Josie war immer noch nicht überzeugt. In ihren Augen war Laurel nach wie vor unheimlich, doch bald schon hatten sie ihn vergessen und spielten weiter.

In den nächsten Tagen sah Miriam Laurel immer häufiger. Meistens stand er alleine auf dem Schulhof, an eine Mauer des alten Schlosses gelehnt, und ging seinen Gedanken nach. Miriam hatte herausgefunden, dass er in ihre Parallelklasse, die 10 b ging. Miriam hatte ihn bisher noch kein einziges Wort reden hören und auf die Zeichnung hatte sie ihn auch nicht angesprochen. Sie war einfach viel zu schüchtern und traute sich nicht. In der Bibliothek hatte sie ihn auch schon öfters gesehen, wenn er seine Nase in eines der Bücher gesteckt hatte. Er war stehts alleine, wahrscheinlich hatte er hier noch keine Freunde gefunden oder er wollte ganz einfach keine Freunde finden. Laurel strahlte sehr viel Ruhe und Zufriedenheit aus und Miriam entspannte sich in seiner Gegenwart, auch wenn sie selbst nicht genau wusste warum.

In den Zeichenkursen verhielt er sich nach wie vor still und sprach mit Niemandem ein Wort. Und nach jeder Stunde fand Miriam einen neuen Zettel im Spind. Manchmal war sie auf den Zeichnungen abgebildet, manchmal aber auch eine Landschaft oder ein altes Gebäude. Sie erzählte Niemandem davon, nicht einmal Josie und auch mit Laurel sprach sie nicht. Eine Frage stellte sich ihr jedoch noch: Woher wusste er, welches ihr Spind war, wenn er doch vermutlich noch nicht einmal ihren Namen kannte?

Schattenflügel - Verwandlung bei VollmondWo Geschichten leben. Entdecke jetzt