„Miriam! Miriam! Miriam! Komm spiel mit mir verstecken. Wieso bist du letztes Mal weggerannt? Lass uns verstecken spielen, das macht Spaß, glaub mir", sagte die helle Kinderstimme. „Du bist nur in meinem Kopf, du bist nicht real, du kannst mir nichts tun", flüsterte Miriam leise, mehr zu sich selbst als zu ihrem Gesprächspartner.
Sie saß im Wald auf einer Lichtung. Nachdem sie vorhin aus dem Internat gestürmt war, war sie einfach in den Wald gelaufen und so lange gerannt, bis ihre Beine versagt hatten. Jetzt saß sie auf dem Boden, mit dem Rücken an einen harten Baum gelehnt. Die Rinde war ungemütlich und stach ihr in den Rücken, doch das war ihr im Augenblick egal.
„Komm spiel mit mir Miriam, du willst es doch auch. Ich weiß, dass du es willst", sagte die Stimme wieder. „Verschwinde!", schrie Miriam laut und sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so alleine, so hilflos ausgeliefert gefühlt.
Plötzlich sah sie vor sich ein weißes Licht, dass sie erschrocken zusammenfahren ließ. Was war das? War das eine dieser verfluchten Seelen? Würde sie sie jetzt in einen Schattenflügel verwandeln? Das Licht sah so friedlich aus, wie eine kleine weiße Wolke, die sanft in der Luft schwebte und keiner Menschenseele etwas antun könnte. Doch Miriam wusste es besser, dieses Ding war gefährlich, sehr gefährlich. Plötzlich kam das Licht auf sie zu, es kam immer näher und näher und drohte fast sie zu berühren. Würde sie sich verwandeln, wenn es sie berührte?
Miriam handelte blitzschnell. Augenblicklich rappelte sie sich hoch und preschte davon. Ihr war es egal wo hin, Hauptsache weg. Sie hatte solch große Angst, dass ihre Beine weich wie Wackelpudding waren. Mühsam kämpfte sie sich durchs Unterholz, doch die kleine weiße Wolke war viel schneller als sie. Plötzlich stolperte Miriam über eine Wurzel. Sie fiel auf den feuchten Erdboden und dann sah sie das Licht über sich, dessen weißer Schein nun ihren Arm berührte. Miriam spürte einen schrecklichen Schmerz und Tränen rannen über ihr Gesicht. An ihrem Arm hatte sich ein großer schwarzer Fleck gebildet, der so sehr wehtat, als hätten tausend Messerstiche ihn durchbohrt.
Sie wollte schreien, doch sie brachte keinen Ton heraus. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Plötzlich verblasste der Schein des Lichtes und er löste sich vor ihren Augen in Lust auf. Erschöpft schloss Miriam die Augen. Sie versuchte zu atmen. Alles drehte sich. Sie musste hier weg! Sie musste nach Hilfe rufen! Ihre Finger gruben sich in den Waldboden, verzweifelt versuchte sie, sich aufzurappeln, doch der Schmerz war zu stark. Der Schmerz, der sich von innen durch ihren Körper bohrte. Der Schmerz, der begann sie aufzufressen, sie zu verschlingen, sie zu vernichten. Ich werde sterben, dachte sie und dann verschwand das Leben aus ihrem Körper. Leblos lag sie da, bewegte sich nicht mehr.
*
Als Miriam ihre Augen öffnete, war bereits der nächste Morgen angebrochen. Der Schmerz hatte nachgelassen, doch etwas war mit ihr geschehen. Etwas war anders als sonst. Sie stand auf und stürzte im nächsten Moment sofort wieder zu Boden. Ihr war eisigkalt. Ein Gewicht an ihren Schultern zwang sie in die Tiefe. Miriam streckte ihre Hand aus und fühlte etwas weiches und feines. Eine Feder. Sie hatte Flügel. Riesige schwarze Flügel. Sie versuchte sie zu bewegen. Doch das ungewohnte Gewicht an ihren Schultern ließ sie ermüden. Was war mit ihr passiert? Sie erinnerte sich, sie war jetzt ein Schattenflügel.
Hoffentlich war das alles auch nur ein fürchterlicher Albtraum und sie würde gleich aufwachen. Miriam warten einen Augenblick, ein paar Sekunden, ein paar Minuten, doch sie wachte nicht auf. Es war echt.
Miriam streckte ihre Hand nach einem Baum aus, um sich daran hochziehen zu können, doch als sie ihn berührte, verfärbte sich seine Rinde schwarz und jegliches Leben wich aus ihm. Miriam erschrak und zog ihre Hand zurück. Was war nur mit ihr geschehen? Was war sie für ein Wesen geworden? Würde sie wirklich alles um sich herum zerstören? War sie so gefährlich? Sie wollte das alles doch überhaupt nicht, sie wollte nicht böse sein, sie wollte niemandem weh tun. Würde sie jemals wieder normal sein? Oder würde sie jetzt bis an ihr Lebensende diese schreckliche Kreatur sein? In ihrem Kopf waren so viele Fragen, auf die sie keine Antwort wusste. So viele Fragen, auf die sie gerne eine Antwort gehabt hätte.
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Schattenflügel - Verwandlung bei Vollmond
Fantasia"Wir sind beide irgendwie von schwarzer Magie durchfressen", grinste Brien und auch Miriam musste trotz aller Umstände lächeln. Nach allem was passiert war, war sie froh, ihn an ihrer Seite zu haben. Miriam ist eigentlich ein ganz normales Mädchen...