(POV Brien):
Kennt ihr dieses Gefühl, wenn man spürt, dass man beobachtet wird? Wenn man diese Blicke auf einem spürt und das Gefühl hat, dass da jemand ist? Genau dieses Gefühl hatte ich gerade, als ich hier am Boden neben Laurel saß. Die Tränen rannen mir inzwischen in Strömen übers Gesicht und ich hätte am liebsten Geschrien, wenn mir nicht die Luft dazu gefehlt hätte. Durch das viele Schluchzen hatte ich kaum noch welche zum Atmen. Ich zitterte am ganzen Körper und das, obwohl mir nicht kalt war. Ich fühlte gerade in diesem Moment irgendwie so viel und doch so wenig.
Plötzlich riss mich ein schrilles Wiehern aus meinen Gedanken und ich fuhr herum. Dies geschah keine Sekunde zu früh, denn jetzt sah ich Miriam, die direkt hinter mir gestanden und ihre Hand nach mir ausgestreckt hatte, um mich zu berühren. Schreckhaft wie ein junges Reh wich ich ein paar Schritte zurück. In ihren feurig roten Augen flackerte es gefährlich und sie hatte ihre Flügel angriffslustig ausgebreitet. Auf ihren Lippen lag ein schelmisches Lächeln und sie ging einen Schritt auf mich zu, um unseren Abstand wieder zu verringern. Ich spürte mein Herz, das wie wild in meiner Brust hämmerte. Ich glaube, ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie solche Angst gehabt. Ja, Miriam hatte mich schon einmal attackiert, aber da war es anders gewesen, denn sie hatte eher ängstlich und verzweifelt gewirkt. Doch jetzt sah sie aus, wie ein wilder Vampir, dem es nach frischen Blut durstete. Ihre Kräfte wurden immer stärker, vielleicht waren sie jetzt sogar schon zu stark, als dass ich irgendeine Chance hatte.
„Blue", flüsterte ich leise. Ich durfte sie jetzt bloß nicht aufregen. Ich durfte keine falschen Bewegungen machen oder irgendetwas sagen, was ihr womöglich missfiel. Sie hatte gerade keinerlei Kontrolle über sich selbst. „Blue, ich bin's", sagte ich also vorsichtig, „Alles ist gut, ich tue dir nichts. Alles ist gut, wir kriegen das wieder hin. Du willst mir nichts tun, eigentlich willst du das nicht und das wirst du auch nicht. Du bist kein Monster, du kannst dich dagegen wehren."
Plötzlich hörte das Flackern in Miriams roten Augen für den Bruchteil einer Sekunde auf. Kam ich zu ihr durch? Verstand sie, was ich sagte? War sie wirklich kein Monster? Sie hatte Laurel umgebracht und plötzlich spürte ich keine Spur mehr von Trauer in mir, sondern nur noch Wut. Sie hatte Laurel umgebracht! Sie hatte ihn eiskalt ermordet, sie war sehr wohl ein Monster. Am liebsten wäre ich auf sie zu gestürmt und hätte sie zu Boden gerissen, hätte auf sie eingeschlagen, bis ich mich besser gefühlt hätte, doch ich tat es nicht. Wenn ich sie jetzt berührte, dann würde ich an der Berührung sterben und wenn ich sie attackierte, würde sie mich umbringen, noch bevor ich ihr auch nur ein Haar gekrümmt hatte. Sie war viel mächtiger als ich. Ich hatte absolut keine Chance gegen sie.
„Alles wird gut Blue, wir kriegen das hin", sprach ich also weiter beschwichtigend auf sie ein. Ich musste irgendwie ihr Vertrauen zurück bekommen, wenn ich es überhaupt jemals gehabt hatte. Ich musste sie ruhig kriegen, dann hätte ich eventuell noch eine Überlebenschance.
„Vertraue mir, Blue", faselte ich weiter auf sie ein, in der Hoffnung, dass ich damit irgendetwas bei ihr erreichte, „Vertraue mir."
Jetzt hörte das Flackern für einen längeren Augenblick auf und Miriams Körperhaltung war nicht mehr ganz so aggressiv. Sie schien eher in einer Art Starre gefangen zu sein und wankte wohl zwischen gut und Böse. Zögerlich hockte ich mich wieder vor sie auf den Boden. Vielleicht konnte ich ihr vertrauen besser gewinnen, wenn ich nicht so groß und bedrohlich wirkte, falls ich jemals groß und bedrohlich gewirkt hatte. Denn eigentlich war ich nicht besonders groß, eher ein wenig kleiner als der Durchschnitt der Männer oder jungen Männer in Lacuna. Trotzdem war ich einen halben Kopf größer als Miriam, wobei sie auch nicht wirklich groß war. Obwohl ich zwei Jahre älter als Laurel war, hatte er mich immer kleiner Bruder genannt, einfach weil er deutlich größer war als ich. Bei der Erinnerung an ihn musste ich sofort Lächeln, doch als mir wieder bewusst wurde, was mit ihm passiert war, spürte ich erneut diesen stechenden Schmerz in meinem Herzen. Und ein weiteres Mal an diesem Tag liefen mir Tränen über die Wangen.
„Brien, ist alles okay bei dir?", hörte ich plötzlich Miriams Stimme und als ich auf sah, erkannte ich, dass sie sich vor mich gekniet hatte. Das Flackern aus ihren Augen war vollständig verschwunden und sie blickte besorgt zu mir. Ich wischte mir schniefend die Tränen weg. Verdammt, ich wollte doch nicht so eine Heulsuse sein.
„Ja, alles okay", antwortete ich und stand auf. Miriam tat es mir gleich. Ihre Aggression, ihre Feindseligkeit, ihre Angriffsbereitschaft, all das war mit einem Mal verschwunden, fast so, als wäre es nie da gewesen. Zögerlich folgte ich ihr, als sie jetzt wieder den Weg in Richtung Wald antrat. Ich sammelte schnell das Holz zusammen, was ich vorhin fallen gelassen hatte und auch Miriam hob ihres vom Boden auf, bevor wir Schweigsam den Wald betraten. Aus dem Augenwinkel nahm ich etwas weißes war, das sich leichtfüßig im Unterholz bewegte. Der Hengst hatte mir vorhin das Leben gerettet und das obwohl ich das Gefühl gehabt hatte, dass er mich nicht ausstehen könnte. Warum hatte er das getan? Vielleicht würde ich es eines Tages wissen. Jetzt gerade war mir der Grund aber auch nicht so wichtig, ich war ihm einfach nur unendlich dankbar.
Hätte sein Wiehern mich nicht aus meinen Gedanken gerissen, dann hätte ich Miriam nicht gesehen und sie hätte mich wahrscheinlich getötet. Miriam war bereit gewesen, mich zu töten. War es wirklich so sicher, hier im Wald mit ihr herum zu spazieren? Würde sie mich vielleicht heute Nacht im Schlaf attackieren? Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte, aber ich musste definitiv etwas unternehmen, denn im Moment schwebte ich in größter Lebensgefahr. Ich konnte Miriam nicht vertrauen. Doch irgendetwas in mir wollte ihr vertrauen. Irgendetwas in mir sah in ihr nur ein verängstigtes, junges Mädchen, das durch einen blöden Zufall zu dem geworden war, was sie nun war. Sie konnte nichts dafür und doch war sie ein Monster und ich musste irgendetwas unternehmen. Doch was? Ich könnte ihr zuvor kommen und sie im Schlaf attackieren. Könnte ich das? Könnte ich damit Leben, einen Menschen umgebracht zu haben?
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Schattenflügel - Verwandlung bei Vollmond
Fantasy"Wir sind beide irgendwie von schwarzer Magie durchfressen", grinste Brien und auch Miriam musste trotz aller Umstände lächeln. Nach allem was passiert war, war sie froh, ihn an ihrer Seite zu haben. Miriam ist eigentlich ein ganz normales Mädchen...