Kapitel 11 - Wegweiser

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(POV Brien):

„Komm, schnell, wir dürfen keine Zeit verlieren", rief mir Josie, die mich an meinem Arm durch die Gänge hinter sich her zog, über die Schulter zurück entgegen. Ich war damit beschäftigt, mir mit einer Hand im Laufen den Pullover, den Josie mir von ihrem Freund, irgendein Julian, geliehen hatte, anzuziehen und erntete dafür einige neugierige Blicke von irgendwelchen Schülern, die ebenfalls in den Gängen unterwegs waren. Wie gut, dass ich nicht in Lacuna war, das wäre mir sonst viel zu unangenehm gewesen, aber hier kannte mich zum Glück niemand.

Als ich es nach einer gefühlten Ewigkeit endlich geschafft hatte, mir den Pullover anzuziehen, stoppte Josie plötzlich und ich krachte unsanft gegen sie. Jetzt sah ich auch den Grund für ihre Vollbremsung: Vor ihr stand ein großer dünner Junge mit blonden kurzen Haaren und blauen Augen. „Hey gib mir sofort meinen Pullover wieder, du Penner!", gaffte er mich nun an, „Und Pfoten weg von meiner Freundin, klar?"

„Julian, lass ihn in Ruhe! Er hat sich nicht an mich rangemacht, er ist nur ein Freund von Miriam, weiter nichts", sagte Josie und stellte sich schützend vor mich. „Ach ein Freund von Miriam? Und deshalb trägt er meine Klamotten, die ich dir gegeben habe? Ist klar", meinte dieser Julian, missmutig. „Julian, das ist weil", rief Josie ihrem Freund hinterher, der sich gerade von uns abwandte. „Erspar mir das, wir sind fertig!", schrie dieser sie nur an und suchte dann das Weite.

Einen Moment lang standen Josie und ich einfach nur da. Ich wagte nicht, irgendetwas zu sagen, weil ich wusste, dass egal was ich sagte, es mir sicherlich keine Pluspunkte gab. Josie hatte mich gerade vor ihrem eigenen Freund verteidigt und das obwohl sie mich kaum kannte. Und ich war nun Schuld an der Trennung von ihrem Freund. Ich traute mich gerade in diesem Moment nicht einmal, Josie anzusehen, also richtete ich meinen Blick auf meine Schuhspitzen.

„Hey das ist nicht deine Schuld", sagte Josie plötzlich aufmunternd zu mir und lächelte mich an, „Julian und ich haben sowieso nicht gut miteinander harmoniert, es war nur eine Frage der Zeit, bis wir uns trennen würden. Und jetzt komm mit, wir müssen Miriam finden."

Es verwunderte mich ein wenig, dass es Josie kaum zu interessieren schien, dass sich ihr Freund gerade von ihr getrennt hatte, doch ich sagte nichts. Vielleicht war sie einfach nicht der Typ Mensch, der seine Gefühle offen zeigte.

„Was hieß das eigentlich? Du hast gesagt, ich wäre ein Freund von Miriam, aber ich kenne sie doch überhaupt nicht", fragte ich, als ich erneut damit beschäftigt war, der flinken Josie durch die Gänge zu folgen. „Du kennst sie nicht?", fragte Josie ein wenig amüsiert, „Das sah aber gestern Abend ganz anders aus." „Ich hab dir doch schon gesagt, ich kann mich nicht mehr daran erinnern", nörgelte ich, „Wie sieht sie denn aus? Vielleicht hilft es meinem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge, wenn du sie mir beschreibst."

„Sie hat unzählige Sommersprossen und sich die Haare vor ein paar Monaten blau gefärbt, sieht übrigens echt geil aus, wie ich finde", rief mir Josie über die Schulter hinweg zu.

Blue? Josies beste Freundin war das Mädchen, das ich gestern im Gang umgerannt hatte kurz nachdem ich durch das Portal gekommen war? Naja eigentlich hatte sie mich umgerannt. Das war Laurels Schwester? Das Mädchen, was ihn mir weggenommen hatte? Okay das war gemein, sie hatte es ja nicht beabsichtigt aber trotzdem hatte ich ihn ihretwegen verloren.

Verdammt, wir hatten keinen wirklich guten Start. Was musste sie bloß von mir denken? Wie sollten Josie und ich denn ihr Vertrauen gewinnen, wenn sie mich hasste? Und wir brauchten ihr vertrauen unbedingt. Sie musste uns zuhören, wenn wir sie retten wollten. Wollten wir sie retten? Eigentlich wollte nur Josie sie retten, ich wollte Laurel retten und ihn zurück nach Lacuna bringen. Doch dafür musste er erst seine Aufgabe beenden. Die Aufgabe, bei dem ihm Miriam im Weg stand.

Nein, ich hatte nicht vor sie zu retten, das wäre viel zu gefährlich. Ich würde sie töten, denn Laurel würde es sicher nicht tun. Wenn sie tot war, könnte er wie zuvor die weiteren Schattenflügel suchen und vernichten und irgendwann zurück nach Lacuna kommen. Und ich? Ich würde für immer in dieser Welt hier bleiben. Doch das war es mir wert. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Laurel etwas zustoßen konnte und dass ich ihn noch mehr verlor als ich es sowieso schon hatte.

Josie würde ich nichts von meinem Plan erzählen. Wenn ich ihr sagte, dass ich vorhatte ihre beste Freundin zu töten, wer weiß was sie dann mit mir tun würde. Aber wie sollten wir Miriam finden? Wie sollten wir Laurel finden? Bestand auch nur die geringste Chance, ihn zu retten?

Plötzlich blieb Josie stehen und ich rannte wieder einmal in sie hinein. „Au, hey was soll...?", wollte ich fragen, doch Josie zeigte mit ihrer Hand vor uns und was ich dort sah, verschlug mir die Sprache.

Direkt vor uns, neben den Spinden stand ein schneeweißes Pferd. Es hatte eine lange weiße Mähne, die leicht nach unten viel. Seine dunklen warmen Augen leuchteten freundlich in unsere Richtung und mir war fast so, als würde mir das Pferd direkt in die Seele schauen. Auf dem Rücken des Pferdes saß ein kleines Mädchen, vielleicht vier Jahre alt. Ihre braunen Locken waren zu zwei niedlich aussehenden Zöpfen zusammengebunden. Sie trug ein rosafarbenes Kleid, das mehrere grüne und blaue Punkte hatte. In ihrer rechten Hand hielt sie einen Teddybären, der sehr alt aussah und offensichtlich schon oft geflickt wurde. Mit der anderen Hand hielt sie sich in der Mähne des Schimmels fest, um nicht von seinem Rücken zu fallen. Sie sah so winzig und verloren auf dem für sie viel zu großen Pferd aus.

Plötzlich verschwand das Pferd mitsamt dem Mädchen auf seinem Rücken. Dann tauchten sie ein paar Meter weiter von uns weg wieder auf.

„Das ist Aralas, Miriams Pferd und das Mädchen ist Lizzy, komm sie wollen uns bestimmt zu ihr führen. Komm!", rief Josie und zog mich wieder einmal hinter sich her. Aralas? Lizzy? Wie konnte ein Pferd mit einem vier Jahre alten Mädchen auf seinem Rücken uns zu Miriam führen? Und woher wussten sie, wo sie war? In meinem Kopf waren so viele Fragen, auf die ich gerne eine Antwort gehabt hätte. Doch Josie ließ mir nicht die Zeit, ihr irgendeine Frage zu stellen, denn sie lief so schnell, dass ich mich ganz darauf konzentrieren musste, sie nicht aus den Augen zu verlieren.

Schattenflügel - Verwandlung bei VollmondWo Geschichten leben. Entdecke jetzt