Kapitel 3 - Ein Engel im Wald

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Laurel wälzte sich in seinem Bett hin und her. Der Mond schien durch das große Fenster in sein Zimmer und warf einen hellen Schein auf den Boden. Es war fast Vollmond und ihm würde nicht mehr viel Zeit bleiben. Er sah in das Bett, das am anderen Ende des Raumes stand. Unter der Decke, die sein Mitbewohner Julian fast bis zu den Ohren hochgezogen hatte, lugte nur ein zerzaustes blondes Haarbüschel hervor. Leise, gleichmäßige Atemgeräusche drangen an sein Ohr. Julian schlief tief und fest.

Laurel setzte sich in seinem Bett auf und schlug vorsichtig, beinahe lautlos die Decke zurück. Er schlüpfte in seine Hausschuhe, die direkt vor seinem Bett standen und zog sich einen schwarzen Kapuzenpullover über sein weißes Nachthemd. Auf Zehenspitzen, soweit das in den Hausschuhen möglich war, schlich er sich zur Zimmertür, die auf den Flur führte. Ein leises Knarzen, das Laurel jedoch unnatürlich laut vorkam, ertönte, als er sie öffnete. Unsicher drehte er sich um, doch Julian grummelte nur einmal kurz im Schlaf und dann setzten wieder die ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge ein.

*

Ein schneeweißes Pferd galoppierte auf Miriam zu. Sein Fell schien in der Sonne zu glitzern und sie war überwältigt von seiner unbeschreiblichen Schönheit. Seine Bewegungen waren kraftvoll und so voller Stärke und Anmut, dass sie spürte, wie sich eine Gänsehaut auf ihrem Arm bildete. Das Pferd blieb vor ihr stehen. Seine Ohren zuckten, seine Nüstern weiteten sich. Miriam war so klein, dass sie gerademal bis zu seiner Brust reichte. Das Pferd senkte seinen Kopf zu ihr herunter, ließ sich von ihr anfassen und streicheln. Sein Fell war ganz glatt und so seidenweich wie man sich die Feder der Flügel eines Engels vorstellte. Das Pferd drückte nun liebevoll sein weiches Maul gegen Miriams Wange. Es war eine so zärtliche und liebevolle Geste, dass sie es kaum wagte sich zu bewegen, aus Angst, das Pferd könnte sich erschrecken und davonlaufen. Ein Lächeln umspielte Miriams Mundwinkel, denn die dünnen, feinen Barthärchen des Pferdes kitzelten sie.

„Wie heißt du?", fragte Miriam leise und wie durch ein Wunder kam ihr auf einmal ein Name in den Kopf. Es war fast, als habe das Pferd sie gehört und ihr auf diese weise geantwortet. Seine dunklen, reinen Augen sahen sie so intensiv an, als schaute es ihr direkt in die Seele und Miriam hatte keine Zweifel daran, dass es das auch wirklich tun könnte.

„Aralas", flüsterte sie leise und das Pferd stieß ein zustimmendes Schnauben aus.

Plötzlich hörte Miriam hinter sich ein Rascheln, dass aus einem der Büsche des Waldes kam. Aralas erschrak und ein Zittern durchzog sein schneeweißes Fell. Er machte auf dem Absatz kehrt und galoppierte davon. Bald darauf war er nur noch ein weißer Punkt am Horizont.

„Dein Geisterpferd gibt es also wirklich", sagte plötzlich eine Stimme hinter Miriam.

Sie drehte sich um und sah vor sich ihren Zwillingsbruder. Er war es gewesen, der sich im Gebüsch versteckt und Aralas erschreckt hatte.

„Er heißt Aralas und er ist kein Geisterpferd", protestierte Miriam nun.

„Ich mein ja nur", ihr Bruder hob entschuldigend die Arme, „weil ihn ja nur du gesehen hast bis jetzt. Ich dachte, du hättest dir das Pferd nur ausgedacht, um mehr Aufmerksamkeit von Mom und Dad zu bekommen."

Miriam zog eine Augenbraue hoch. „Als wenn ich das nötig hätte." Sie betrachtete ihren Bruder etwas genauer. „Dein weißes Haar würde wunderbar zu Aralas Fell passen."

*

Miriam schreckte aus dem Schlaf hoch. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, wo sie war, bis es ihr wieder einfiel. Eine feuchte Träne lief langsam ihre Wange hinunter. Warum weinte sie? Was war das für ein Traum gewesen? Es war, als hätte sie die Welt aus den Augen eines kleinen Mädchens, vielleicht fünf Jahre alt, gesehen. Es hatte sich alles so echt angefühlt, als wäre es wirklich passiert. Irgendetwas in ihr sagte, dass sich diese Szene schon einmal abgespielt hatte, aber Miriam konnte sich nicht daran erinnern, wann das hätte sein sollen.

Schattenflügel - Verwandlung bei VollmondWo Geschichten leben. Entdecke jetzt