Kapitel 1

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Immer wieder setze ich einen Fuß vor den anderen. Meine Füße schmerzen. Den ganzen Abend schon trage ich meine neuen goldenen Stilettos. Ich hatte sie mir extra für diesen Abend gekauft, wollte perfekt aussehen. Mittlerweile laufe ich ziemlich wahrscheinlich wie ein ungeschickter Trampel. Das enge schwarze Kleid, was sich vor einigen Stunden noch angenehm an meine Kurven geschmiegt hatte, zwickt auf einmal und ich muss mich davon abhalten nicht im Minutentakt am Saum zu ziehen. Meine langen braunen Haare, zu großen Locken gestylt, kitzeln meinen freien, blassen Rücken und rufen mir in Erinnerung, wie gern ich jetzt irgendwo anders wäre. Verdammt, warum bin ich überhaupt hergekommen? Wie gerne wäre ich jetzt in meiner Jogginghose auf dem Sofa und würde mir einen Kartoffelchip nach dem anderen in den Mund schieben. Wie gerne würde ich jetzt losrennen und sie alle keines einzigen Blickes mehr würdigen. Aber jetzt bin ich hier. Ich bin hier und halte seine Hand, während ich in der Menge nach den Augen eines Anderen Ausschau hielt. „Was für eine Party!", gibt meine Begleitung aufgeregt von sich.

Sein Name ist Andrew und ich hatte vor einigen Wochen auf seine Nachrichtenanfrage auf Instagram reagiert, womit unsere regelmäßigen nächtlichen Verabredungen begannen. Andrew ist nicht viel größer als ich, was ich mit meinen 1,77 Metern in Absätzen aber gewohnt bin. Dafür sieht er mit seiner gebräunten Haut, seinen Muskeln und seinen perfekt sitzenden schwarzen Locken aus, wie aus einem Modekatalog. Und alles daran geht mir wahnsinnig auf die Nerven. Es nervt mich, dass er in jeder Situation die richtigen Worte findet, immer sehr gewählt und niemals respektlos. Es nervt mich, dass er niemals flucht, geschweige denn auch nur ein schlechtes Wort über seine Mitmenschen verliert. Und am allermeisten nervt es mich, dass er mich wirklich zu mögen scheint und ich ihm niemals das geben kann, was er verdient. Für mich wird er nie mehr sein, als gute Gesellschaft in einsamen Momenten. Ich werde niemals die Gefühle für ihn aufbringen können, die es für eine Beziehung braucht. „Ich kann warten, bis du bereit bist", hatte er gesagt. Nur habe ich dies mit einem Lächeln auf den Lippen akzeptiert und es nicht übers Herz gebracht ihm zu sagen, dass ich niemals bereit sein werde. Zumindest nicht für ihn.

Dennoch bin ich in diesem Moment dankbar, dass er meine Hand hält während wir im Eingangsbereich der großen Villa stehen, in der ich den größten Teil der letzten 2 Jahre verbracht hatte. 9 Monate sind vergangen, seit ich das letzte Mal einen Fuß über die dunkle Türschwelle setzte, dabei fühlt es sich auf einmal alles wieder so nah an. Ich schüttele meinen Kopf, als wolle ich die Erinnerungen davon abhalten sich in meinem Kopf festzusetzen und schaue langsam in den mit Menschen gefüllten Raum. Leichtbekleidete Modepüppchen tanzen zu der Lauten Musik, die aus den Boxen tönt, wobei ihre Haare zu jedem Zeitpunkt perfekt aussehen. Wobei man das wohl kaum tanzen nennen kann. Sie bewegen sich nur so stark, wie es die kurzen Kleider zulassen ohne einen zu tiefen Einblick zu gewähren. Ich verurteile sie. Und als mir bewusst wird, dass ich genau wie sie bin, verurteile ich mich umso mehr. Hinter ein paar der Frauen bewegen sich herausgeputzte Männer, wenngleich etwas ungeschickter in ihren Bewegungen als ihre Tanzpartnerinnen. Noch mehr Personen tummeln sich an einer großen extra aufgebauten Bar, welche sich unmittelbar hinter dem zur Tanzfläche erklärten Bereich befindet. Es ist, als würde sich an der Bar eine andere Party abspielen. Die Männer dort sind keine Sakko- und Loaferträger. Sie sind zurechtgemacht, so viel steht fest, nur sieht das bei ihnen nicht so aalglatt aus. Fast jedes Gesicht ist an irgendeiner Stelle mit Piercings verziert und ihre Haut ist von Tattoos gezeichnet, bei einigen mehr als bei anderen. Die Frauen um sie herum sehen jedoch alle auf die gleiche Art und Weise zum kotzen perfekt aus.

„Olivia Clarke!", holt mich eine laute und viel zu hohe Frauenstimme aus meinen Gedanken. „Was um alles in der Welt machst du hier, Olivia Clarke?" Ich blicke in das unter Tonnen von Makeup begrabene Gesicht einer kleinen rundlichen Frau. Das hat mir gerade noch gefehlt. „Amanda", murmle ich und möchte mich gerade an ihr vorbeischieben als sie mein Handgelenk mit einem festen Griff packt. „Olivia Clarke! Hier! Damit hat wirklich niemand gerechnet. Sei mir nicht böse, aber niemand hatte in den letzten Monaten mehr von dir gehört." Amanda Goldbloom. Eine furchtbar nervige Frau, welche unsagbare Freue darin findet sich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen und Klatsch und Tratsch zu verbreiten. Insgesamt war ich drei Mal in eine Konversation mit ihr geraten. Das erste Mal sprach sie mich an, weil sie in irgendeinem Schundmagazin gelesen hatte, ich würde an einer Essstörung leiden. „Mir ist doch direkt aufgefallen, dass du viel zu dünn wirst!", hatte sie gesagt und mich fest an sich gedrückt, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass meine Situation sie einen Dreck zu interessieren hatte. Zugegeben, ich war schon immer sehr dünn und hatte damals radikal an Gewicht verloren. Wahrscheinlich sah ich auch wirklich so knochig aus, wie sie mich in Zeitschriften und Internetartikeln beschrieben. Allerdings berichtete nicht eine dieser Seiten, nicht ein Magazin davon, dass meine Mutter kurz zuvor beinahe durch eine Überdosis Schlaftabletten aus dem Leben geschieden war und ich mich neben meiner Tätigkeit als erfolgreiche Fotografin um meine kleine Schwester kümmern musste. Nachdem eine alte Bekannte der Familie einem Journalisten für viel Geld die ganze Story steckte und der dann einen reißerischen Artikel über die Choreographin, welche dem Druck nicht standhalten konnte veröffentlichte, drückte Amanda Goldbloom mich ein zweites Mal an sich. „Natürlich wusste ich sofort, dass mehr dahinterstecken muss. Du bist doch so eine starke Frau!" Das letzte Mal hatte sie mich auf einer Party zur Seite gezogen, nachdem sie irgendwo aufgeschnappt hatte, bei wem ich mit meiner Schwester eingezogen war. „Ich wusste die ganze Zeit, dass da mehr als nur Freundschaft zwischen euch ist. Freundinnen können mir doch nichts verheimlichen!" Freundin. Neben all den Wörtern, welche ich für die kleine Amanda über die Jahre gefunden hatte, war mir das Wort Freundin noch nie in den Sinn gekommen. Und nun steht sie wieder vor mir und schaut mich so an, als würde sie eine langjährige Freundin in Empfang nehmen. Ihr Blick fällt sofort auf die nicht von ihr umklammerte Hand, welche noch immer mit der von Andrew verschlungen war. Sie fängt so breit an zu grinsen, dass beinahe all ihre großen Zähne zum Vorschein kommen und sich mir die Frage auftut, wie oft sie diese wohl bereits künstlich aufgehellt hatte. Niemand hat so weiße Zähne. Sie drückt mir einmal fest in die Schulter, dreht sich um und tänzelt davon in die Menge.

„Ich hole dir was zu trinken", sagt Andrew schmunzelnd, als er mein vor Wut verzerrtes Gesicht erblickt. Dann löst er seine Hand aus meiner und bewegt sich in die Richtung der Bar. Kurz bleibe ich wie angewurzelt stehen, bis sich ein großer Typ mit dunkelbraunen, fast schulterlangen Braids und Tattoos, welche an Hals und Armen zum Vorschein kommen, grinsend in mein Sichtfeld stellt. „Rook!" Fast ein wenig zu überschwänglich werfe ich meine Arme um ihn, wobei er mich anhebt und eine halbe Drehung mit mir macht. Als er mich wieder absetzt betrachtet er mich von oben bis unten. „Du siehst wirklich gut aus, Liv. Ich war mir nicht sicher, ob du kommst.", sagt er mit einem Lächeln, was meine Beine weich werden lässt. Rook ist wohl einer der nettesten Menschen, welche ich je kennenlernen durfte. Auch ihn sehe ich heute Abend nach 9 Monaten das erste Mal wieder, wobei es sich nun anfühlt, als wäre nichts gewesen. Wenn man es genau nimmt, ist zwischen uns auch nichts vorgefallen. Aber er musste sich entscheiden. So ist das doch immer, wenn sich die Wege von Freunde trennen. Man entscheidet sich für eine Seite. Wir haben uns noch ein paar Mal gesehen, nachdem der Streit eskaliert ist, bis ich schließlich umgezogen bin. Er hatte mich nicht mehr angerufen oder auf meine Nachrichten reagiert, aber vorgeworfen hatte ich ihm das nie. „Hey... Es tut mir-", beginnt er, doch ich unterbreche ihn, als ich merke, was er da sagen will. „Schon gut, Rook. Ich verstehe es." Dabei lächle ich ihn an und meine es auch wirklich. Er grinst. „Wer ist der Lackaffe?" Er nickt zu Andrew, der gerade mit zwei Gläsern, aus denen schwarze Strohhalme ragen, in der Hand in unsere Richtung steuert. Ich kann mir gerade so ein Lachen verkneifen und haue meinen Ellenbogen spielerisch in Rooks Seite. Andrew reicht mir elegant ein Glas mit einer hellen Flüssigkeit, die stark nach Whisky riecht. „Whisky Sour", erklärt Andrew mit einem Nicken auf mein Glas. Dann schaut er zuerst Rook und dann mich erwartungsvoll an und streckt Rook die Hand entgegen, als er merkt, dass ich ihn nicht vorstelle. „Hey Mann, ich bin Rook.", erwidert der tätowierte Schlagzeuger auf Andrews Vorstellung. Während die beiden anfangen sich zu unterhalten scannen meine Augen weiter die Menge, von einem torkelnden rothaarigen mit Getränkeflecken auf dem Shirt über ein eng umschlungenes Pärchen, bis hin zu einer wunderschönen blonden Frau. Mein Blick bleibt unweigerlich auf ihr haften. Sie ist nicht sonderlich klein, wenn auch kleiner als ich. Das dunkelgrüne Kleid liegt perfekt an ihrem Körper und betont genau die richtigen Stellen. Kurz scheint sie meine Blicke zu spüren und ihre Augen treffen beinahe meine, als sich auf einmal zwei tätowierte Arme um ihren Körper legen und sie langsam umdrehen. Dabei steckt mich ihr umwerfendes Lächeln an und ich freue mich mit ihr, bis mein Blick auf ein mir sehr bekanntes Tattoo auf der rechten Schulter ihres Verehrers fällt. „North 71". Mir stockt der Atem, als ich zusehe wie der große Mann sich runterbeugt und seine Stirn gegen ihre lehnt. Er drückt ihr einen Kuss auf die Lippen, lächelt und geht weiter. Dabei bemerkte ich zu spät das er in meine Richtung läuft. Ich will gerade in der Menge verschwinden, als er abrupt stehen bleibt und seine blauen Augen meine treffen. Was sich eigentlich in wenigen Sekunden abspielt, kommt mir nun vor wie viele Stunden. Ich verliere mich in den Augen, die ich einst jeden Tag gesehen hatte, die ich so sehr geliebt hatte. Ich hatte versucht mich darauf vorzubereiten ihn heute Abend zu sehen, schließlich war er der Hauptgastgeber. Doch egal wie oft ich mir vorgestellt hatte, wie es sein würde, wenn ich ihn nach 9 zu langen Monaten endlich wiedersehe, die Realität schlug mich fast um. Am liebsten wäre ich auf ihn zu gerannt und hätte mich in seine Arme geworfen, hätte ihm gesagt wie schlimm die letzten Monate ohne ihn waren und wie sehr ich ihn jeden Tag vermisse. Doch bevor sich mir die Möglichkeit ergibt, dreht er sich um, geht zurück zu der blonden und verschwindet mit ihr an der Hand.

Pressures from outside us - A Colson Baker StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt