Kapitel 8

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Ich bin wieder allein, was mir schmerzlich bewusst wird, als ich meinen eigenen Atem immer lauter höre. Schnell wische ich mir eine Träne, welche sich gerade einen Weg über meine rechte Wange bahnt, mit meinem Handrücken weg. Ich setze mein Auto in Bewegung und lasse Bens zusammengestellte Playlist laufen.

Home, a place where I can go
To take this off my shoulders

Someone take me home

Vielleicht ist es reiner Zufall, dass nun ausgerechnet ein Lied mit Machine Gun Kelly aus den Boxen meines Autos tönte, doch irgendwas löst seine Stimme in mir aus. Fast unterbewusst ändere ich die Richtung meines Wagens und fahre nach einer viertel Stunde durch die mit Villen bestückte Wohngegend, welche ich zuletzt für einen Job besucht hatte. Als ich mein Auto auf der große Auffahrt mit dem Aston Martin endlich zum Stehen bringe, merke ich erst so richtig, wo ich gerade bin. Oh Gott... Was habe ich mir nur dabei gedacht hier her zu kommen? Ich will schon den Zündschlüssel wieder rumdrehen, doch irgendwas hält mich davon ab. Ich schüttele den Kopf und gehe langsamen Schrittes auf die massive Eingangstür zu, bis ich schließlich die Klingel betätige. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, bis ich aus dem Inneren des Hauses Schritte vernehme, und sich kurz darauf die Tür langsam öffnet.

„Liv?" Colsons Augen schauen direkt in meine. „Habe ich... wir waren doch nicht... Was machst du hier?", bringt er schließlich hervor.
Was mache ich hier? Bis zum jetzigen Zeitpunkt hatte ich mir keine Gedanken darüber gemacht, was ich sagen würde, wenn mir Colson tatsächlich gegenübersteht. Warum bin ich ausgerechnet heute zu ihm gefahren? Warum bin ich überhaupt hier?
„Ich...", stammele ich. „Ich habe Hunger."
Colsons Miene hellt sich etwas auf und er zieht seinen rechten Mundwinkel zu einem halben Lächeln hoch. Plötzlich fällt mir auf, wie bescheuert ich gerade wirken muss. Ich habe Hunger? Wer fährt einfach so, ohne Termin zu einer fremden Person, um sich dann vor sie zu stellen und ihr mitzuteilen, dass man hungrig ist?
„Ähm... Es... tut mir leid. Ich sollte wieder fahren." Ich will mich umdrehen, als Colsons kalte, tätowierte Hand meine greift und mich am Gehen hindert.
„Liv", sagt er und schaut mir dabei noch immer tief in die Augen.
„Ich habe dich doch mehr oder weniger zum Essen eingeladen. Ich dachte zwar, wir fahren in ein Restaurant und machen vorher einen Termin aus, aber so ist es mir auch recht.", lacht er mir entgegen. Daraufhin lässt er meine Hand los und tritt einen Schritt zur Seite, um mir den Weg in sein Haus freizumachen. Die ganze Situation ist mir unglaublich peinlich, was mein Gegenüber nicht zu stören scheint.
„Kaffee?", fragt Colson mich, während er vor mir her in seine Küche geht.
„Es ist fast sieben Uhr am Abend.", erwidere ich nach einem kurzen Blick auf die große Küchenuhr. Colson schnaubt, was ich als Lachen werte.
„Manchmal vergesse ich, dass es Leute mit einem normalen Schlafrhythmus gibt." Er nimmt sich zwei große Becher aus einem Schrank an der Wand und stellt eine unter seine Kaffeemaschine. Mit dem anderen Becher geht er weiter zum Kühlschrank und füllt sie mit Milch und Kakaopulver.
„Warm oder kalt?", fragt er, während er das Pulver und die Milch mit einem Löffel verrührt. Ich blicke ihn fragend an.
„Der Kakao. Trinkst du ihn lieber warm oder kalt?"
„Für wie alt hältst du mich? Und was lässt dich glauben, dass ich Kakao überhaupt mag?" Seine Arroganz treibt mir das Blut in die Wangen. Er verdreht die Augen und reicht mir den Becher.
„Warm", sage ich leise, woraufhin Colson breit zu grinsen beginnt und den Becher in die Mikrowelle stellt. Auch ich kann mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.

Wir beschließen uns Pizza zu bestellen. Nachdem ich den Kakao und er seinen Kaffee geleert haben und die Pizza nach einer dreiviertel Stunde immer noch nicht da ist, setzen wir uns in sein großes Wohnzimmer auf das riesige schwarze Sofa. Colson öffnet zwei Flaschen Bier und reicht mir eine, als es schließlich an der Tür klingelt und der Lieferant Colson zwei große Peperoni-Pizzen in die Hand drückt. Als wir zu essen beginnen, schaut mich Colson erneut mit großen Augen an.
„Ich esse super gerne Fast Food, während ich angestarrt werde.", sage ich mit ironischem Unterton.
„Darf ich jetzt fragen, wieso du ohne Vorwarnung hier auftauchst und Pizza mit mir bestellen willst? Ich hatte nicht den Eindruck, als würdest du mich sonderlich gerne mögen." Er zieht seine linke Augenbraue hoch. „Also?" Es fällt mir zunehmend schwer, den Augenkontakt zu halten. Mir fällt keine Antwort auf die Frage ein, warum es mir vor zwei Stunden wie das plausibelste auf dieser Welt vorgekommen war, zu ihm zu fahren. Schließlich kennen wir uns ja eigentlich gar nicht.
„Ich..." Ich beiße ein weiteres Stück meiner Pizza ab, um die Antwort noch ein wenig herauszögern zu können.
„Ist alles in Ordnung bei dir? Ist irgendwas mit deiner Schwester?", fragt er mich und strahlt dabei eine angenehme Ruhe aus. Ich senke meinen Kopf und schaue runter in meinen Schoß, wo meine Zeigefinger nervös an der Haut meiner Daumen pulen. Schließlich kann ich nur Nicken, wobei mir Tränen in die Augen steigen. Scheiße! Ich will auf keinen Fall vor Colson weinen. Nicht hier, nicht jetzt! Das kann doch nicht wahr sein. Colsons Hände greifen den Pizzakarton, welchen ich neben meine Beine auf das Sofa gelegt hatte, und verlagert ihn auf den kleinen grauen Couchtisch. Als er an mich heranrutscht, kann ich sein dezentes Parfüm riechen und fühle mich irgendwie geborgen. Ich kann es mir selbst nicht erklären. „Ich habe meine Schwester im Stich gelassen. Ich habe sie allein gelassen und..." Gegen meinen Willen bricht meine Stimme, was ich mit einem Räuspern versuche zu vertuschen. „Naja, jetzt ist sie wieder bei unserer Mutter und lässt sich triezen und quälen." Wieder schäme ich mich dafür, dass ich auf seinem Sofa sitze und mich so verletzlich zeige. Ich bemerke zunächst nicht, dass er seinen Arm um meine Schulter gelegt hat und mich näher an sich ran zieht. Als ich mich an ihn lehne, atme ich seinen angenehmen Duft ein und schließe die Augen. Für einen Moment habe ich das Gefühl, dass es nur ihn und mich auf der Welt gibt. Wir bleiben einige Minuten still nebeneinander sitzen, meinen Kopf an seine Brust gelehnt. Ich höre sein Herz durch die Brust schlagen, wodurch ich mich ihm auf eine merkwürdige Art verbunden fühle.
„Lass uns einen Film schauen, um dich ein wenig abzulenken.", schlägt er leise vor. Ich würde lieber für immer so sitzen bleiben, möchte ich sagen. Fast bin ich etwas traurig, dass er die Stille durchbrochen hat und ich mich gezwungen fühle, meinen Kopf von seinem Körper zu heben. Peinlich berührt nehme ich einen großen Schluck Bier zu mir und bringe Abstand zwischen unsere Körper. Colson steht auf und verlässt den Raum, kommt jedoch wenige Augenblicke später mit zwei vollen Bierflaschen wieder. Er stellt die Flaschen auf dem Tisch ab, bleibt direkt vor mir stehen und hockt sich hin. Sein Gesicht ist nun direkt vor meinem, seine Hände liegen auf meinen Beinen. Sofort steigt Wärme in mein Gesicht. Ich schaue direkt in seine blauen Augen, welche mich in eine andere Welt zu führen versuchen. Die leichten Augenringe lassen vermuten, dass er in der letzten Zeit wenig geschlafen hat. Wie in Trance hebe ich meine Hand und will sein Gesicht berühren, merke allerdings was ich tue, bevor meine Fingerspitzen seinen Dreitagebart streifen.
„Was auch immer vorgefallen ist, du bist mit Sicherheit nicht schuld. Ich habe deine Reaktion gesehen, als du deine Schwester vor deiner Wohnung gesehen hast. So reagiert kein Mensch, der seine Schwester allein lässt.", flüstert er fast. Nun streifen meine Finger doch über sein Kinn und seinen Kiefer. Er ist so schön.
„Colson..." Auch ich vermag es lediglich zu flüstern. Sein Gesicht kommt meinem langsam näher und ich bin versucht, es einfach zuzulassen. Umso überraschender prallen meine Gedanken, welche ich bis jetzt unterdrücken konnte, auf einmal auf mich ein. Was zur Hölle tue ich hier? Ich kenne diesen Menschen doch gar nicht. Wird er mich jetzt küssen? Zu gerne würde ich seine Lippen schmecken. Doch was dann? Sowas mache ich doch nicht... Mein Herz droht vor Aufregung zu zerspringen und bevor er seine Lippen auf meine legt, schrecke ich ein Stück zurück. Seine Augen weiten sich, als würde auch er erst jetzt bemerken was gerade passiert ist. Ohne etwas zu sagen, steht er auf, nimmt sein Bier und geht durch eine große Glastür, in seinen Garten. Der Moment ist verflogen.

Ich beschließe, ihm nicht zu folgen. Stattdessen nippe ich an der vollen Flasche Bier, bis diese leer ist. Circa 20 Minuten später kommt Colson wieder ins Wohnzimmer und riecht nach Zigaretten.
„Du kannst hier unten im Gästezimmer schlafen.", sagt er kühl.
„Was?", erwidere ich verwirrt.
„Ich gehe davon aus, dass du dich nicht mehr hinters Steuer setzen willst. Du kannst dir natürlich ein Taxi nehmen, aber mein Gästezimmer ist günstiger."
Plötzlich wird mir bewusst, wie angetrunken ich schon bin und ich nicke als Antwort.

Colson zeigt mir den Weg in das geräumige, dunkelgrau gehaltene Gästezimmer und geht ohne noch etwas zu sagen, die Treppe hinauf in das obere Stockwerk, wo sich sein Schlafzimmer befinden muss. 

Pressures from outside us - A Colson Baker StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt