Kapitel 7

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- 2 Jahre zuvor –

In dieser Nacht schaffe ich es kaum einzuschlafen. Und wenn der Schlaf dann doch kommt, kommen mit ihm die Träume und ich werde wieder wach. Ich habe Charlie das Bett überlassen und es mir selbst auf dem Sofa gemütlich gemacht. Um halb sechs Uhr am Morgen gebe ich es schließlich auf und mache die Kaffeemaschine an. Charlie hatte mir unter Tränen erzählt wie sich Moms Zustand in den letzten Wochen immer mehr verschlechtert hatte. Es begann mit einem neuen Choreographie Projekt, welches sie angenommen hatte.

In jungen Jahren war unsere Mutter eine begnadete Balletttänzerin, tanzte in Moskau an der Bolschoi-Ballettakademie. Dort lernte sie auch ihren ersten Mann kennen, einer ihrer Choreographen. Der verließ sie nach zwei kurzen Ehejahren für eine jüngere, neuere Tänzerin. Zwei Jahre später folgte Ehemann zwei, ein Tänzer welcher über viele Monate ihr Duett Partner war. Sie heirateten nach nur 6 Monaten Beziehung. Als sie schließlich ungeplant schwanger wurde und er das Kind nicht wollte, verließ sie ihn und damit die Bolschoi-Akademie und bekam mich. Sie unternahm einige Versuche wieder ins Ballett zu kommen, welche jedoch scheiterten. Also orientierte sie sich um und fing stattdessen mit dem Choreographieren an, was sie bis zum heutigen Tag mit Leidenschaft erfüllt. Sie war eine gute Mutter, welche mich größtenteils alleine großzog, bis sie Rick kennenlernte. Rick war der erste Mann, welcher nicht aus „ihrer Welt" kam, sondern als Klempner arbeitete und sich am Wochenende ab und zu mit Kumpels zum Kicken traf. Er machte sie glücklich, wirklich glücklich. Sie wurde schwanger und er machte ihr mit meiner Hilfe einen Heiratsantrag, den sie unter Freudentränen annahm. Vier Jahre nach Charlies Geburt folgte dann der tödliche Unfall. Von diesem Moment an war unsere Mutter eine gebrochene Frau. Als ihre manischen Phasen begonnen fing sie außerdem an sich wieder so sehr in der Welt des Tanzes zu verlieren. Da sie sich aber immer bewusst war, dass sie alt für das Ballett war projizierte sie ihre Träume auf Charlie und mich, wobei sie sich dabei hauptsächlich auf Charlie fokussierte. Sie hatte aufgrund ihres jungen Alters mehr Potential sich auf ein Profitänzerniveau zu trainieren. Charlie war es nie erlaubt sich eine eigene Leidenschaft auszusuchen, wurde mit Ballett großgezogen. Ich hingegen hatte es einfacher, war mit meinen 12 Jahren schon zu alt, als dass ich je eine perfekte Tänzerin hätte werden können. Mit 16 war ich alt und reflektiert genug um zu merken, dass unsere Mutter uns kein gesundes Umfeld mehr bieten konnte und fing an neben der Schule zu arbeiten. Ich wollte so schnell wie möglich auf eigenen Beinen stehen können und ich wollte Charlie mitnehmen. Meine Mutter wusste was ich plante und hasste mich dafür, war stets darum bemüht Charlie von mir fernzuhalten oder ihr in den Kopf zu setzen, was ich für eine schlechte Tochter und Schwester sei. Als ich 18 war zog ich schließlich aus, arbeitete jeden Tag bis spät in die Nacht, um Charlie zu mir holen zu können. Doch Charlie liebte unsere Mutter abgöttisch. Sie war erst 9 Jahre alt, doch wollte alles dafür geben Moms Traum zu erfüllen. Ich versuchte es über die Jahre immer wieder, wollte Charlie immer wieder zu mir holen, doch sie blieb bei unserer Mutter. Irgendwann gab ich es schließlich auf, was dazu führte, dass sowohl meine Verbindung zu Charlie als auch zu meiner Mutter wieder stärker wurde. Mom begann sich behandeln zu lassen und Medikamente zu nehmen und ich sah wie die Gefahr welche von ihr ausging immer geringer wurde. Ich begann zu vergessen was sie Charlie antat, wenn sie ihre Medikamente nicht nahm und ließ sie bei ihr. Und jetzt in diesem Moment hasse ich mich dafür, wie nie zuvor.

Ich weiß, dass Charlie in den letzten Wochen wenig Schlaf bekommen hatte, weshalb ich mich dafür entscheide sie erstmal ausschlafen zu lassen. Nachdem ich den großen Becher Kaffee fast inhaliere und die Uhr kurz nach 6 anzeigt, beschließe ich Brötchen für ein gemeinsames Frühstück mit meiner Schwester zu kaufen. Ich schreibe meinen Plan auf einen Zettel, welchen ich auf meinem Esstisch platziere und verlasse die Wohnung. Als ich bei meinem Lieblingsbäcker ankomme bleibe ich noch einige Minuten im Auto sitzen und schaue der aufgehenden Sonne entgegen. In diesem Moment ist alles so friedlich.

Pressures from outside us - A Colson Baker StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt