Kapitel 9

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Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis endlich der Schlaf über mich kommt. Colson hatte ein T-Shirt auf das Fußende des Bettes gelegt, zusammen mit einer Zahnbürste und einem Handtuch. Da mir das Shirt fast bis zu den Knien reicht, gehe ich davon aus, dass es sich um eins von seinen handelt. Außerdem riecht es nach ihm, was das Einschlafen zusätzlich erschwert. Ich denke noch eine ganze Weile über den Fast-Kuss nach, welchen ich erfolgreich unterbunden hatte, und kann mich nicht entscheiden, ob es die richtige Entscheidung gewesen war ihn nicht zu küssen. Ich schaffe es schließlich doch noch in einen unruhigen Schlaf zu fallen.

„Was hast du mir angetan?!", schreit mir Charlie mit wütenden Augen ins Gesicht. Ich will dich beschützen! Ich schaffe es nicht, die Worte laut auszusprechen. Sie dreht sich um und ich sehe ihren Körper, welchen Blutergüsse zieren. Dann geht sie in die Dunkelheit. Ich will ihr folgen, doch kann mich nicht bewegen. Charlie! Doch ich bleibe stumm.
„Du hast sie einfach zurückgelassen." Auf einmal taucht das traurige Gesicht meines Stiefvaters Rick vor meinem auf. „Ich habe mich auf dich verlassen. Ich wollte, dass du meine Kleine beschützt! Du Egoistisches Miststück!" Der Ausdruck auf seinem Gesicht verändert sich. Auf einmal sieht er mich aus hasserfüllten Augen an. „Du hast versprochen, sie zu beschützen! Du hast es versprochen..." Er senkt seinen Blick und dreht sich langsam um. Ich will meinen Arm heben und ihn vom Gehen abhalten, doch als ich meinen Arm endlich heben kann, um nach ihm zu greifen, scheint er plötzlich meilenweit entfernt. Mein Körper setzt sich endlich in Bewegung und endlich kann ich rennen. „Rich! Lass mich nicht zurück!", schaffe ich endlich zu rufen. „Lass mich nicht allein!" Ich renne in die Dunkelheit, bis ich schließlich etwas am Boden liegen sehen. Als ich langsam näher komme, glaube ich ein zusammengerolltes Kind am Boden liegen zu erkennen. Doch bei genauerem Hinsehen, erkenne ich Charlies Gesicht. Nein! Sie ist so dünn und klein, dass sie zu zerbrechen droht, wenn ich sie nur zu lange anschaue. Zitternd dreht sie ihren Kopf in meine Richtung und ich sinke auf meine Knie. Charlie... „Du hast mir das angetan", weint sie. „Du hast mich zerstört!" Ihre Stimme bricht und ihre Umrisse beginnen zu verschwinden. „Nein Charlie! Es tut mir leid!", rufe ich noch, doch sie ist bereits verschwunden. Ich stehe in unendlicher Dunkelheit. „Bitte! Es tut mir so leid!" Tränen laufen über meine Wangen. Ich will um mich schlagen, doch meine Arme werden von irgendetwas festgehalten. „Liv" Rick? Ist er zurückgekommen? Ich will mich drehen, doch auch das ist mir nicht möglich. „Liv, schau mich an!" Ich schaue in tiefes blau. „Liv, schau mich an. Ich bin es!"

Mich noch immer windend schlage ich meine Augen auf und schaue in Colsons schockiertes Gesicht. Er sitzt an der Bettkante und halt mich an meinen Armen auf dem Bett. Ich versuche mich in meiner Verwirrung noch einige Sekunden aus seinem Griff zu befreien, bis ich merke, dass es zwecklos ist. Als ich aufhöre mich zu wehren, lässt Colson von mir ab und schaut mich eindringlich an. Im steht der Schock ins Gesicht geschrieben. Langsam beruhigt sich meine Atmung und ich setze mich auf. Der Wecker zeigt 4.23 Uhr am Morgen an.
„Du hast geschrien, Liv. Und als ich ins Zimmer kam, hast du um dich geschlagen und geweint.", sagt Colson mit besorgter Miene.
„Tut mir leid... Ich wollte dich nicht wecken.", war alles, was ich sagen konnte. „Mir geht es gut, geh wieder schlafen", schiebe ich noch hinterher, als sich sein Gesichtsausdruck nicht verändert.
„Passiert das öfter?", fragt Colson mit zusammengezogenen Augenbrauen und schaut mich nun skeptisch an.
„Ab und an. Aber das letzte Mal ist schon eine Weile her.", gebe ich beinahe flüsternd zurück. Mein Schlaf und ich haben, seit ich denken kann, eine schwierige Beziehung. Die lebhaften Träume kommen phasenweise. Wie lange die Phasen anhalten, hängt meist damit zusammen, wie viel Stress ich habe oder wie schwierig die Situation mit meiner Familie gerade ist. Das letzte Mal wurde es so schlimm, dass ich gar nicht mehr schlafen wollte. Die Alpträume wurden einfach zu real, kamen zu oft... In dieser Zeit ging ich gerade durch eine sehr harte Trennung mit meinem Verlobten. Nick. Außerdem musste ich mich darum kümmern, dass Mom ihre Medikamente wieder einnahm. Das liegt jetzt 8 Monate in der Vergangenheit und geht damit als eine der längsten alptraumfreien Phasen seit vielen Jahren durch. Der Gedanke an das was in den nächsten Wochen wahrscheinlich bevorsteht, lässt mich schaudern.
„Bist du sicher, dass es dir gut geht? Du siehst aus wie eine Leiche.", holt mich der große tätowierte Mann aus meinen Gedanken. Ich springe aus dem Bett und laufe so schnell es mir möglich ist zum angrenzenden Gästebadezimmer, ohne dabei zu bedenken, dass ich nur das übergroße T-Shirt von meinem Gastgeber trage. Als ich mein Spiegelbild anschaue, erschrecke ich. Ich bin kreidebleich, habe dunkle Augenringe und eine nassgeschwitzte Stirn. Sollte Colson noch darüber nachgedacht haben, mich zu küssen, dürfte er diesen Gedanken spätestens bei meinem jetzigen Anblick verworfen haben. Ich sehe furchtbar aus, noch dazu fühle ich mich dreckig. Ich lasse mich mit meinem Rücken an der Fliesenwand auf den Fußboden rutschen. Ich hätte niemals herkommen dürfen. Ich muss wie eine Verrückte wirken. Zuerst stehe ich ohne Vorwarnung vor seiner Tür und lade mich selbst zum Essen ein und jetzt schreie ich im Schlaf das ganze Haus zusammen und schwitze ein Shirt, welches nicht einmal mir gehört, voll. Einige Minuten sitze ich auf dem kalten Fußboden und denke über die ganze große Peinlichkeit nach, als es schließlich an der Tür klopft und Colson seinen zerzausten blonden Kopf, ohne auf eine Antwort zu warten, durch die Tür schiebt. Das ist wohl der Gipfel der misslichen Lage, in welcher ich mich befinde. Colson steht nun direkt vor mir und schaut mit mitleidigem Blick auf mich herab. Die Tatsache, dass ich keine Hose trage, macht sich sehr klar in meinem Kopf breit. Obwohl ich mich am liebsten in Luft auflösen würde, ergreife ich die Hand, die er mir entgegenstreckt. „Komm mit.", sagt er fast befehlend und führt mich aus dem Gästezimmer heraus die Treppe hinauf bis in ein großes Schlafzimmer. Das Bett ist unordentlich und zeigt, dass hier bis vor einer halben Stunde noch jemand in ihm geschlafen hatte. Gegenüber vom Bett steht ein kleines schwarzes Sofa. „Du kannst in meinem Bett schlafen." Er deutet mit seinem Kopf auf das große Doppelbett. Ungläubig schaue ich ihm entgegen. „Keine Sorge. Ich schlafe auf dem Sofa.", wirft er ein, als könnte er meine Gedanken lesen.
„Warum tust du das?", will ich wissen.
„Du kannst es auch einfach annehmen. Ich dachte, du willst nicht allein sein." Noch immer trieft sein Blick von so viel Mitleid. Als sei ich ein kleines Kind, welches Angst vor Monstern unter dem Bett hat.
„Ich bin erwachsen, Colson. Ich komme schon klar.", sage ich, meinen Blick auf den Fußboden gerichtet. Er gibt nur ein genervtes Seufzen von sich. Erst jetzt erkenne ich, wie garstig ich geklungen hatte. Er ist die ganze Zeit einfach nett zu mir und ich versuche mein angeknackstes Ego wieder aufzubauen.
„Danke.", kann ich nun also hervorbringen. „Aber ich glaube, ich sollte besser auf dem Sofa schlafen. Ich bin kleiner." Ich setze ein Lächeln auf und schaffe es endlich ihm in die Augen zu blicken. Er zeiht skeptisch die Augenbrauen in die Höhe und schaut au mich hinab.
„Auf keinen Fall.", gibt er zurück und nimmt sich eine der zwei Decken und eins der Kissen aus dem Bett und legt sich damit auf das Sofa. Langsam krieche ich in das Bett, dann macht Colson das Licht aus. Ich lasse mich auf das Kissen sinken, in welchem sein Geruch noch mehr als deutlich hängt. Ich erwische mich bei dem Gedanken, mir vorzustellen, mein Kopf läge auf seinem Körper. Dieses Mal kommt der Schlaf schnell und traumlos über mich.

Als ich aufwache ist das Zimmer leer. Das Sofa, auf welchem ich einen blonden Riesen vermutet hatte, ist ganz leer. Nicht einmal das Kissen und die Decke liegen noch dort. Leise schleiche ich die Treppe herunter und gehe in das Gästeschlafzimmer, in welchem letzte Nacht der erste Alptraum nach 8 Monaten über mich gekommen war, um mich anzuziehen. Nachdem ich auch das Bett gemacht und mein benutztes Handtuch sowie die Zahnbürste ordentlich auf einen kleinen Stuhl in der Ecke gelegt habe, gehe ich in den Wohnzimmerbereich. Weiterhin keine Spur von Colson. Allerdings höre ich einen Gang herunter leise Musik. Gitarre. Ich muss nicht zweimal nachdenken und folge der Musik bis vor eine weiße, geschlossene Tür, hinter welcher die Geräusche entstehen. Leise drücke ich die silberne Türklinke herunter und drücke mein Gewicht gegen die Tür. All meine Mühen, besonders leise zu sein, sind umsonst. Colson, welcher mit einer weißen Gitarre auf einem großen schwarzen Sessel im Ecke des Raumes sitzt, welcher wohl sein Heimstudio sein muss, hört sofort auf zu spielen und schaut mich überrascht an.

„Du bist wach." Er steht auf und lehnt das Instrument gegen den Sessel. Dann setzt er sich in meine Richtung in Bewegung. Er kommt erst zum Stehen, als er mir so nah ist, dass ich den Geruch seiner frisch gewaschenen Haare vernehme.
„Ich wollte... Es tut mir leid. Was heute Nacht passiert ist, meine ich.", sage ich verlegen und beginne instinktiv wieder an meinen Fingern zu pulen. Seine Nähe macht mich nervös und ich weiche reflexartig einen Schritt zurück.
„Kaffee?", ist alles, was Colson fragt, während er sich an mir vorbei durch die Tür schiebt und in Richtung der großen Küche geht. Einerseits bin ich dankbar, mich nicht weiter erklären muss, und andererseits verletzt mich sein scheinbar völliges Desinteresse. Was hast du denn erwartet?, frage ich mich. Als ich ihm in die Küche folge, stellt er bereits zwei große Becher unter den Lauf der Kaffeemaschine und lässt die dunkle dampfende Flüssigkeit hineinlaufen. Schließlich reicht er mir einen der beiden Becher kommentarlos und setzt sich auf einen von drei Barhockern, die an der hohen Arbeitsfläche stehen. Ich schaue mich in der Küche um und kann nicht anders, als mich mit einem Blick auf Colson zu fragen, ob er jemals für sich kocht.
„Ich habe dein T-Shirt im Gästezimmer zusammengelegt.", bringe ich hervor, hauptsächlich um die Stille zu durchbrechen. Ohne mich anzusehen, nickt Colson leicht und nimmt schließlich einen Schluck seines Kaffees. In mir macht sich ein unwohles Gefühl breit. Auf einmal wäre ich lieber überall sonst als in dieser Küche. In einem Raum mit ihm.
„Ist alles okay?" Ich schaue ihn eindringlich an und warte darauf, dass seine blaue Augen meine finden. Doch das tun sie nicht.
„Hör zu, ich wollte gestern einfach nur nett sein. Außerdem hast du das Haus zusammen geschrien und ich konnte nicht mehr schlafen. Das war alles. Du musst jetzt nicht so tun, als wären wir Freunde." Seine Worte treffen mich wie ein Schlag in die Magengrube.
„Was ist dein Problem?", gebe ich direkt zurück.
Er verdreht nur seine Augen und steht von dem hohen Stuhl auf, auf welchem er sitzt.
„Wenn du den Kaffee ausgetrunken hast, kannst du den Becher einfach in die Spülmaschine stellen. Du wirst dann bald von Ashleigh hören, wenn sie sich für Fotos entschieden hat." Als ich nicht antworte und ihn lediglich anstarre, wirft er noch hinterher: „Von dem Fotoshooting." Was soll das denn? Gestern Abend hatte er mich noch einfühlsam in den Armen gehalten und mir das Gefühl gegeben, dass alles gut wird. Und auf einmal ist er wieder der arrogante kalte Mensch, welcher mir bei unserem ersten Treffen gegenüber gestanden hatte.
„Okay, wow." Ich stelle den fast unberührten Becher Kaffee mit einem lauten Schlag auf die glatte Arbeitsfläche der Küche und laufe schnellen Schrittes zu dem Gästezimmer, in welchem meine Autoschlüssel liegen. Als ich die wenigen Sache, mit welchen ich gekommen war, zusammen habe und das Zimmer wieder verlasse, steht Colson weiterhin in der Tür zwischen Küche und Eingangsbereich. Er schaut mich mit ernster Miene an und wirkt beinahe traurig, was mein Blut noch mehr zum Brodeln bringt.
„Liv", presst der große blonde hervor und ich bleibe abrupt vor ihm stehen und schaue nach oben in sein Gesicht.
„Tut mir leid, dir solche Umstände gemacht zu haben. Ich hatte eigentlich das Gefühl, wir hätten uns ganz gut verstanden. Mein Fehler." Damit schiebe ich mich an ihm vorbei durch die Eingangstür und presche voran zu meinem Auto. Für einen Moment sitze ich einfach da, mit dem Blick auf die Eingangstür, und erlaube mir selbst zu hoffen, dass er mir durch diese folgt. Als er das nicht tut, drehe ich schließlich den Zündschlüssel herum und verlasse die Auffahrt seiner Villa. 

Pressures from outside us - A Colson Baker StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt