Keine Schneeflocke in einer Lawine wird sich je verantwortlich fühlen.
- Stanislaw Jerzy Lee -SCHON DEN GANZEN MORGEN schwirrt mir dieser eine Satz im Kopf herum, vielmehr diese eine Frage. Sind wir frei, weil man es uns sagt? Da ich gleich in die Schule muss, würde ich die Frage ganz klar mit nein beantworten. Nein, ich bin nicht frei, auch wenn man mir sagt, ich sei frei. Seit ich aufgewacht bin, geistern mir die Worte an die Brief-Person im Kopf herum. Ein neuer Tag bedeutet neue Briefe, neue Briefe bedeuten, dass ich immer neugieriger werde und wissen möchte, wer die andere Person ist.
Im Prinzip ist es ganz leicht, ich müsste mich nur zum Unterricht verspäten und warten, wer Spind Sechsundachtzig öffnet. Und vielleicht hat die andere Person auch längst herausbekommen, wer ich bin und weiß schon länger, dass ich diejenige bin, mit der er Briefe austauscht.
Der Grund, warum ich selber es noch immer nicht gemacht habe, ist sogar ganz simpel: die Wahrheit verschafft Dingen eine scharfkantige Realität. Was wahr ist, ist nicht auch gleich schön, selbst wenn die Wahrheit immer etwas Reines an sich hat. Im Endeffekt ist es ein Trugschuss, zu behaupten, alles Wahre wäre automatisch schön.
Zu oft ist die Wahrheit hässlich, zu oft hasse ich das, was die Wahrheit aus Dingen macht. Und ich habe Angst. Angst davor, wie sehr mich die Wahrheit mir ihren scharfen Kanten treffen würde. Was, wenn ich am Ende enttäuscht bin, enttäuscht über die Person, die sich hinter dem Kratzen des Stiftes und hinter den kleinen Botschaften versteckt?
Was, wenn ich die Person nicht kenne, nichts mit der Person anfangen kann oder wir uns tête-à-tête miteinander identifizieren können, wir nicht auf der gleichen Wellenlänge schwimmen, wie im Schriftlichen?
Oder noch viel schlimmer: was, wenn ich die Person kenne und sie nicht ausstehen kann, wenn es jemand ist, von dem ich ganz sicher nicht möchte, dass sie es ist?
Zu viele Optionen und jede von ihnen kann mir die Sicherheit versprechen, die ich brauche, die ich mir wünsche. Sicherheit, dass es derjenige ist, von dem ich mir wünsche, dass er es ist. Es ist bei weitem leichter, alles um sich herum auszublenden. Aber es ist eine Lüge.
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LOVE LETTERS TO A STRANGER
Teen FictionLiebesbriefe an einen Fremden. »Wer bist du, hinter dem Blau deiner Tinte und dem Kratzen deines Stiftes? Wer bist du, wenn die Tinte verblasst und all unsere kleinen Briefe nichts als ein Nachhall vergangener Zeiten sind?« Honey Ambrosé ist stumm...