Des Menschen Auge sieht weit.
Des Menschen Verstand sieht weiter.- Dschingis Khan -
ES IST SCHON LUSTIG, wie eine Person in kürzester Zeit eine derart dominante Person in deiner Gedankenwelt einnehmen kann. Silas und ich haben nach dem Treff bei mir Zuhause noch öfter etwas miteinander unternommen, auch wenn es meistens nur der gemeinsame Weg zur Schule und zurück war. Er weiß vermutlich nicht, wie unendliche viel es mir bedeutet, ihn an meiner Seite zu haben. Dinge alleine bewältigen zu wollen ist nie stark, genau das habe ich allmählich gelernt. Es macht einen einsam und unsicher, es lässt einen in ein gefährliches Netz aus Einsamkeit und Trauer geraten, in einen Strudel aus Unsicherheit und Verlorenheit.
Und dieser Strudel ist es, der wie ein Sturm über deinen Weg des Lebens wüstet. Über manche Dinge wächst Gras, der Sturm packt es an den Wurzeln, zerrt an ihnen und reißt sie mit sich. Mit den Wochen haben sich die Stricke gelöst, mit Penelope, Silas und auch Kassian habe ich Freunde gefunden, mit denen ich Zeit verbringe und die mein Schweigen akzeptieren, die mich akzeptieren.
Violet gegenüber fühlt es sich wie Verrat an, als hätte ich sie hintergangen. Als hätte ich nicht das Recht, neue Leute zu treffen, die mich glücklich machen und mit denen ich zumindest kurz die lauten Schreie in meinem Kopf übertönen kann. Gleichzeitig frage ich mich: Wäre es nicht das, was eine beste Freundin sich für mich wünschen sollte?
Vermutlich schon, trotz allem bleibt dieser Gedanke, dieser klitzekleine Zweifel, der an mir nagt, wie ein Parasit an mir kleben.
Ich bin schuld daran, dass Violet tot ist, völlig egal, was andere versuchen mir einzureden. Und wäre sie nicht tot, hätte ich vermutlich auch nie andere Freunde gefunden. Es fühlt sich an, als würde ich sie ersetzen. Als hätte ich ihr erst das Leben genommen, durch meine Hände am Lenkrad, und würde sie auf die grausamste Art fallen lassen.
Erneut.
»Erde an Honey«, sagt Silas lachend und wedelt mit der Hand vor meinem Gesicht herum. Ich blinzle kurz, die Realität kommt wie eine Wucht zurück, genauso wie der, für eine Cafeteria übliche, Lärm und die pulsierenden Gelächter, die knalligen Farben. Ich sehe ihm direkt in die Augen, in seine Augen, die genauso gut ein stürmischer Ozean sein konnten. Er bemerkt mein Zucken. Manchmal fühlt es sich an, als hätte er etwas wie einen sechsten Sinn, der ihm sagt, wenn es mir schlecht geht oder nicht.
DU LIEST GERADE
LOVE LETTERS TO A STRANGER
Teen FictionLiebesbriefe an einen Fremden. »Wer bist du, hinter dem Blau deiner Tinte und dem Kratzen deines Stiftes? Wer bist du, wenn die Tinte verblasst und all unsere kleinen Briefe nichts als ein Nachhall vergangener Zeiten sind?« Honey Ambrosé ist stumm...