Camio 20 - Zeit für Zweisamkeit

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Ich starrte ihn fassungslos an und glaubte mich verhört zu haben.
„Was hast du gesagt?"

Cassiel hob den Blick und sah mir direkt in die Augen. „Ich bin in dich verliebt, Camio.
Schon seit dem wir uns das erste Mal begegnet sind. An dem Tag, an dem ich in unsere Klasse gekommen bin. Weißt du noch?"

Ich nickte, während ich versuchte die Bedeutung seiner Worte zu realisieren. Er liebte mich? Aber wieso... wie konnte man jemanden wie mich lieben?

„Ja...", antwortete ich schließlich. „Du hast dich damals neben mich gesetzt, auf meinen Block geschaut und gesagt, dass du meine Zeichnungen gut fändest... Dann hast du gelächelt, wie ein kleiner Sonnenschein... Weißt du, das war der selbe Tag, an dem ich vor hatte, mir das Leben zu nehmen. Ich konnte die Einsamkeit nicht mehr ertragen. Doch als ich dann oben auf der Brücke stand und gewollt war zu springen, da habe ich an dich gedacht und wie du mich angelächelt hast... und habe es doch nicht getan... Schon damals, als wir uns das erste Mal begegnet sind, hast du mich vor mir selbst gerettet, und das, ohne es überhaupt zu wissen."

Ich wusste noch genau, wie ich mit vierzehn Jahren, mitten in der Nacht oben auf der Brücke gestanden und mit meinem Leben abgeschlossen hatte. Ich war bereits hinter das Geländer geklettert und zitterte am ganzen Leib. Der Sturm hatte gewütet, so laut, dass ich mir einbildete, er würde mich anschreien, dass ich endlich springen solle. Der eiskalte Regen hatte unbarmherzig auf mich eingeschlagen, als versuche er, mich noch weiter herunter zu ziehen. Über mir tat sich ein wolkenverhangener Himmel auf; kein einziger Stern hatte in jener Nacht geleuchtet. Tief unter mir warteten die reißenden Strömungen des Flusses nur so darauf, mich auf ewig in sich zu verschlingen, wie das Portal in eine andere Welt. Eine Welt, in der alles besser war.

Ich hatte mich nach Halt suchend an das Geländer geklammert und verzweifelt nach meiner Mama geschrien, in der Hoffnung sie würde mich hören und von meinem Vorhaben abhalten. Doch wie sollte sie? Sie war doch gerade dabei in einem Streit mit meinem Vater das ganze Haus auf den Kopf zu stellen.

Ich wollte nicht sterben, doch weiterleben wollte ich auch nicht. Ich suchte verzweifelt nach einem Grund, es nicht zu tun und da dachte ich an ihn... den neuen Schüler in meiner Klasse. Meinen neu gewonnenen Freund. Cassiel.

Als wir uns nach der Schule voneinander verabschiedet hatten, sagte ich: „Tschüss..."
Er jedoch sagte: „Auf Wiedersehen."

Es war genau fünf Minuten vor zwölf, als ich mich dazu entschieden hatte, mein Leben doch noch nicht aufzugeben.

Und es war genau fünf Minuten später, als ich meinen fünfzehnten Geburtstag dann doch noch miterleben durfte.

„Irgendwie hast auch du mich damals gerettet ", sagte Cassiel aufeinmal.
„Weißt du, ich wurde früher immer gemobbt. Als ich dich damals gefragt habe, ob wir Freunde sein wollen und du mit ja geantwortet hast... Das hat mir mein Selbstvertrauen und die Freunde am Leben zurück gegeben. Ansonsten hätte ich wahrscheinlich nicht den Mut gehabt, die Vergangenheit hinter mir zu lassen und wieder ich selbst zu sein. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich wohl irgendwann aufgegeben..."

„Vielleicht war es Schicksal, dass wir uns getroffen haben"

Ich griff nach seiner Hand und verschränkte meine Finger in seinen. Erst als ich seine wärmende Hand spüre, merke ich, wie kalt meine eigene war.

„Hast du auch Gefühle für mich?", fragte er mich hoffnungsvoll, als er auf unsere verschränkten Finger sah.

„Ja...", hauchte ich.

Ein Lächeln legte sich auf Cassiels Lippen, so schön und ehrlich, dass ich gar nicht anders konnte, als es zu erwidern.
Seine Augen funkelten in diesem wunderschönen Blauton, seine Wangen waren leicht gerötet und sein Lächeln wurde immer breiter. Ich beugte mich vor und gab ihm einen hauchzarten Kuss auf die Wange, woraufhin er noch mehr strahlte.

Du bist nicht alleinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt