Camio 21 - Last Christmas

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Cassiel führte mich quer durch das Dorf, vorbei am Rathaus und der Kirche, hinaus aufs Land. Dabei passierten wir auch die große Schrägseilbrücke am Rande des Dorfes, die über den Fluss führte. Sie bestanden aus metallisch rotem Stahl, am Rand ragten meterhohe Pfeiler gen Himmel, an denen sich Seile schräg nach unten hin zu einem Dreieck bildeten; zwischen ihnen verlief eine zweispurige Fahrbahn mit samt Fußweg.

Dreißig Meter in der Tiefe wand sich der reißende Fluss. Das Wasser strömte mit hoher Geschwindigkeit Richtung Norden und peitschte unaufhörlich auf die dunklen Felsen ein. 
Das Rauschen erinnerte an das Knurren eines wilden Tieres, als wolle er damit seine Gefährlichkeit unterstreichen. Kein Mensch würde aus diesen Strömungen lebend herraus kommen.

Auf halber Strecke weigerten meine Beine sich auch nur einen Schritt weiter zu gehen.
Ich blieb wie eingefroren auf der Stelle stehen und betrachtete starr den blutroten Pfeiler vor mir. Cassiel hielt inne und sah in meine Blickrichtung. „Was ist?"

Wie in Trance näherte ich mich dem Geländer und sah hinab in die Tiefe. Der Wind kam mir auf einmal so eiskalt vor und der Himmel schien sich zu verdunkeln.
Kalter Schweiß lief mir das Rückrad hinab.

„Hier war es..."

Ich erinnerte mich genau an das Gefühl, wie ich genau hier stand und kurz davor war zu springen.

Hilflos und allein, hoffnungslos und gebrochen... Aber auch ein wenig erleichtert, bei dem Gedanken, dass bald alles vorbei sein würde.

Cassiel legte mir die Hand auf die Schulter. Ich malte mir aus, was passieren würde, hätte ich genau jetzt vor, mich in den Tod zu stürzen.

Cassiel würde mich festhalten... Er würde sich mit aller Kraft an mich klammern und zurückzerren. Wenn es sein musste würde er mich nie wieder loslassen. So ein Mensch war er.

Er würde nicht zulassen, dass ich sprang.

Würde ich es aber dennoch bis über den Rand schaffen... was dann?

„Ich würde dir folgen.", sprach Cassiel, als könne er Gedanken lesen. „Würdest du planen, irgendwo herunter zu springen, würde ich alles tun, um das zu verhindern. Wäre ich nicht stark genug, würden wir gemeinsam fallen..."

„...doch ich würde als erstes unten ankommen, um dich aufzufangen.", fügte ich hinzu.

„..."

„Lass uns weiter gehen.", sagte ich dann, um endlich von dieser scheiß Brücke zu entkommen.

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„Ist es noch weit?"

„Halbe Stunde, dann sind wir da."

Cassiel stolzierte den Waldweg entlang und war mal wieder die Heiterkeit in Person. Ich fragte mich wirklich, wie man immer so gut drauf sein konnte, angesichts der Tatsache, dass er den ganzen Tag mit einem Depressiven verbrachte.
„Hier ist weit und breit niemand", sagte er dann und grinste über beide Ohren. Wir hatten das Dorf längst verlassen und irrten nun irgendwo in der Vallapampa herum, doch Cassiel schien zu wissen wohin.

Das wusste er immer, denn er kannte seinen Weg.

„Was hast du vor?!" Ohne meine Frage zu beantworten hielt er sich beide Hände in Trichterform vor den Mund und trällerte los.

„LAST CHRISTMAS, I GAVE YOU MY HEART..."

Ich guckte dabei ziemlich verdattert aus der Wäsche. „Was wird das?!"

Du bist nicht alleinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt