Camio 17 - Familie

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Auf dem Rückweg schweiften meine Gedanken immer wieder zu dem Gespräch mit Derek, kreisten um diesen einen Satz, den er gesagt hatte. Mittlerweile weiß es doch die halbe Schule.

Am Abend kam ich schließlich zuhause an und betrat das Wohnzimmer. Meine Mutter saß auf der Couch und sah sich eine Dokumentation über Tiere an.

„Hey, Mom..." Ich setzte mich vorsichtig neben sie auf die Couch und betrachtete den Fernseher, auf dem gerade gezeigt wurde, wie eine Frettchenmutter mit ihren Babys kuschelte. Wie gerne würde ich doch mit einen von den kleinen Tieren tauschen.

„Wie gehts dir?", stellte ich die überflüssigste Frage überhaupt, angesichts der Tatsache, wie sie das Frettchen mit sehnsüchtigen Blicken beobachtete, wie es mit seinen Kindern schmuste und dabei aussah, als könne sie jeden Moment zusammenklappen. Und das, obwohl Helenas Tod nun schon zwölf Jahre zurück lag.

„Gut", gab sie ihre Standartantwort, ohne den Blick von dem Bildschirm abzuwenden.

„Mom...", fuhr ich fort und rückte ein Stück näher an sie heran. „Ich möchte, dass du weißt, dass du nicht allein bist..."
Ich legte ihr die Hand auf die Schulter. „Ich bin für dich da, okay?"

Nun wandte sie ihren Blick nun doch von dem Bildschirm, sah mich aus glasigen Augen an und nickte stumm.
Die dunklen Augenringe und die blasse Haut verrieten mir, dass es ihr nicht gut ging; ein Blick in ihre bernsteinfarbenen, trostlosen Augen jedoch zeigte mir, welcher Sturm wirklich in ihr tobte.

Ich bewunderte sie für ihre Stärke, dass sie trotz allem noch immer den Haushalt regelte und versuchte einen Job zu finden, um nicht länger von dem Geld meines Vaters abhängig zu sein, wie dieser von seinem Alkohol.

Ihre Blicke wanderten zum Fernseher und betrachteten wehmütig die Mutter mit ihren Jungen; danach sah sie wieder zu mir. Auf ihren Lippen bildete sich ein schwaches Lächeln, bevor sie schließlich den Arm um mich legte und näher zu sich zog. Sie sagte noch immer nichts, doch das brauchte sie auch nicht. Wir verstanden uns auch ohne Worte.

Ich kuschelte mich an sie und genoss das Gefühl von Nähe und Geborgenheit, nach dem ich mich so lange gesehnt hatte. Mir wurde gleich ein wenig wärmer in dieser dunklen , kalten Welt. Da sie sonst immer so gefühlskalt mir gegenüber war, hätte ich nicht gedacht, dass sie überhaupt noch im Stande war, mütterliche Liebe zu zeigen. Da hatte ich mich wohl geirrt.
Als sie mir dann noch eine Wolldecke umlegte und mir einen Kuss auf die Stirn gab, fühlte ich mich zum ersten Mal seit langem wirklich Zuhause.

Zuhause...Was bedeutete das eigentlich? Für mich war es ein Ort, an den man immer zurückkehren konnte. Ein Ort, an dem man sicher war und sich wohl fühlte. Bei seiner Familie.

Familie... Dabei ging es mir nicht um Blutsverwandtschaft. Familie konnte jeder sein, der einem nahe stand.

Ab wann stand man jemandem nah?

„Glaubst du, sie wird eines Tages nach Hause kommen?", fragte meine Mutter. Ich hasste diese Frage. Denn die Wahrheit war nein, Helena war tot. Doch ich wusste es würde nichts bringen ihr das einzureden. Das hatte mein Vater oft genug versucht und es war nie gut geendet.

„Bestimmt", antwortete ich, weil ich die Wahrheit einfach nicht übers Herz brachte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich ein schwaches Lächeln auf ihren Lippen bildete und da wusste ich, dass es die richtige Antwort war. Sie lächelte nur selten.

„Wie ich sie kenne wird sie vor der Tür stehen und sagen: Mama, ich hab dir Blumen mitgebracht", sagte sie mit leiser Stimme. „Am Liebsten mochte sie Vergissmeinnicht"

Du bist nicht alleinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt