Camio 28 - Auf der Schwelle zwischen Leben und Tod

82 13 22
                                    


Wie in Zeitlupe fiel der Wassertropfen hinab in die Tiefe. In jener Sekunde war es so still, dass ich das leise Geräusch, als er auf meiner Haut aufkam, deutlich hören konnte. Wie gebannt verfolgte ich, wie die glasklare Träne sich rötlich färbte; spürte das Brennen ihres Salzes in der frischen Wunde. Alles um mich herum blendete ich vollständig aus und genoss diese Ruhe, wenn der Schmerz für einen Moment all die Geister aus meinem Kopf vertrieb; diesen Frieden, wenn ich für einen Moment wieder atmen konnte.

Einen Herzschlag später verschwand dieser melancholische Frieden. Ein Schrei riss mich zurück in die Realität. Es war der meiner Mutter.

„Scheiße..." Ich sprang vom Bett auf und stürmte Richtung Wohnzimmer, um zu sehen, was Sache war.
Vor der Tür ließ die Angst mich innehalten. Aus dem Inneren waren laute Stimmen zu hören. „Wie oft soll ich es noch sagen?!", schrie Ben. Sein Tonfall jagte mir einen Schauer über den Rücken. Mit zitternder Hand drückte ich die Türklinke hinunter und öffnete die Tür einen Spalt breit, um ins Innere blicken zu können.
„Wann verstehst du es endlich?!"

Durch die handbreite Öffnung erkannte ich meine Eltern zwischen dem Wohnzimmer und der offenen Küche. Ben hatte meine Mutter in die Ecke gedrängt und hielt sie unsanft an den Schultern fest. „DU BIST KRANK!"

Meine Mutter versuchte sich aus seinem Griff zu winden, doch er war ihr kräftemäßig überlegen. „Lass mich los!"

Ohne groß nachzudenken lief ich ins Zimmer und blieb in der Mitte des Raumes stehen. Das Gestreite verstummte. Alle Blicke waren auf mich gerichtet; die meiner Mutter flehend, die meines Vaters wutentbrannt. „Lass sie los!" Ich versuchte möglichst mutig zu klingen, doch als Ben sich langsam umdrehte und mir die starke Alkoholfahne entgegen kam, gefror mir das Blut in den Adern.

Sein Versuch, mit dem Trinken aufzuhören, war mehr als nur gescheitert. Es war noch schlimmer geworden.

Als er meine Mutter losließ, suchte diese das Weite. Mit einem Knall fiel die Haustür ins Schloss und dann war sie verschwunden.

Und ließ mich mit ihm allein zurück.

Bens giftgrünen Augen durchbohrten mich förmlich mit ihren Blicken. Sie loderten vor Zorn. Der starke Alkoholgeruch brannte in meiner Nase. Es schnürte mir die Kehle zu.

Ehe ich reagieren konnte, stand er unmittelbar vor mir, holte aus und schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Völlig erschrocken hielt ich mir meine schmerzende Wange und machte mich so klein wie möglich; wünschte mir im Erdboden zu versinken.
„Misch dich nie wieder in unsere Angelegenheiten ein, hast du verstanden?!" Sein Tonfall jagte mir eine Höllen Angst ein. Ich erzitterte, biss mir auf die Unterlippe und nickte schwach. Ben wandte sich von mir ab und verließ das Haus, nicht aber, ohne sich in der Tür noch einmal umzudrehen.

„Schäm dich!"

Und das war er, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Ich rannte in mein Zimmer, stolperte und fiel. Doch statt wieder aufzustehen, blieb ich einfach dort liegen, rollte mich zu einer Kugel zusammen und zitterte am ganzen Leib. Mir wurde schwindelig und übel. Mein Herz klopfte und Schweiß lief mir über die Stirn. Ich atmete nur noch stoßweise und sah die Welt als ein verschwommenes Etwas, das surreal und weit weg erschien. Ich spürte die Realität nicht mehr. Ich nahm nicht mehr war, was um mich herum geschah. Ich sah das Licht der Sterne nicht mehr. Da war nur noch dieser Schmerz. Diese dunkle Blase, die mich in sich gefangen hielt.

Ich lag am Boden des Abgrundes.

Erneut fiel mein Blick auf meinen Nachtschrank. Erneut gewannen diese dunklen Gedanken an Form. Dieses Mal noch aufdringlicher, verlockender, tödlicher.

Du bist nicht alleinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt