22

22 5 2
                                    

Holly

《Du willst was?》entgeistert starrt meine Therapeutin mich an.

Ich habe sie kurz bevor sie ihr Büro verlassen konnte abgefangen um ihr von meinem Plan zu erzählen.

《Sie haben mich schon richtig verstanden. Ich will das wirklich durchziehen.》erwidere ich.

Ihre Miene verändert sich von ungläubig zu überrascht zu aufgeregt. 《Dann komm, lass uns alles vorbereiten. Das ist eine großartige Idee Holly》《Meinst du wirklich?》 《Ja, dreitausendmal Ja. Ich finde es toll wie du die Initiative ergreifst und versuchst dir selbst und Anderen zu helfen.》Sie wirkt ehrlich begeistert.《Ok, wo bekommen wir ein Mikrophon?》frage ich schnell.

Zwei Stunden später ist alles abgeklärt. Marilyn und ich haben alles vorbereitet.  Der Plan steht. Wir haben gerade zu Abend gegessen und gehen jetzt in unsere Betten. Ich öffne die Tür zu meinem Zimmer. Sie knarzt laut und quietschend. Und am liebsten würde ich wieder rausrennen. Dem Knarzen und Quietschen entfliehen, doch das geht nicht. Ich bin jetzt erwachsen und ich bin kein Kind mehr. Ich kann nicht einfach meinen Raum verlassen und einen anderen fordern, nur weil plötzlich die Türen quietschen und ich mir dann vorstelle, der Geist des kleinen Jungen würde hier herumirren. Also gehe ich hinein. Ich zittere etwas. Schnell husche ich in mein Bett. Jede Nacht seit seinem Tod ist anders. Mal habe ich Angst, mal will ich sterben, mal weinen, mal bin ich wütend und an ganz seltenen Tagen denke ich an nichts. An ganz seltenen Tagen schlafe ich schnell ein. Heute habe ich Angst.

Dennoch versuche ich meine Augen zu schließen, versuche einzuschlafen, denn es ist alles in meinem Kopf. Die Geräusche, die ich höre, sind nur eine Halluzination, denn wenn ich meine Augen öffne, ist da nichts als Dunkelheit. Aber ich kann die Geräusche nicht ausblenden. Sie sind da. Irgendwann höre ich sie nicht mehr und bin im Nichts. Zeit wird zeitlos und ich gehe in meine Traumwelt über. Alpträume durchfluten meinen Kopf und doch stehe ich am nächsten Morgen auf, voller Aufregung, denn heute ist besonders und schlechte Nächte sind vergessen.

Ich überschminke meine Augenringe, dusche und ziehe mich an. Marilyn holt mich ab. Wir gehen in die Mensa. Mein Herz klopft. Gleich ist es so weit. Marilyn schreitet nach vorne, führt mich ein und dann stehe ich plötzlich da mit nichts als einem Tisch und einem Haufen Leute vor mir und meinem Blatt Papier. Meinem roten Faden. Doch jetzt zerknülle ich ihn, schmeiße ihn weg, denn es wäre falsch. Es wäre unpassend. Ich weiß nicht warum genau, aber es ist eine Eingebung. Dann hole ich tief Luft. Die Leute schaue ich erst gar nicht an. Das würde mich verunsichern. Dann würde ich jetzt wegrennen. Und dann beginne ich zu reden.

《Ich habe lange meine Depressionen verschwiegen, auch hier. Ich habe gelacht und eigentlich wollte ich heulen. Ich war glücklich manchmal, aber irgendwie ging das Glück so schnell vorüber. Ich war eigentlich nur traurig und ich bin es auch immer noch. In den sozialen Medien werden Menschen oft als stark bezeichnet, wenn sie von Depressionen in Vergangenheitsform sprechen. Wenn sie ihre Depressionen schon hatten. Doch wenn ich in der Gegenwart davon spreche, dann bin ich schwach. Doch das stimmt nicht. Wir sind alle stark, aber fühlen uns schwach. Wir sind stark.

Weil dich alle nur als schwach sehen, wenn du über deine gegenwärtigen Depressionen redest, werde ich das jetzt ändern. Zumindest in dieser Anstalt. Ich möchte, dass Depressionen zumindest an diesem Ort normalisiert werden, denn das ist der richtige Ort hierfür. Ich möchte nicht, dass wir lachen, wenn wir nicht lachen wollen. Ich möchte, dass wir ehrlich sind. Denn nur dadurch, dass wir uns austauschen, können wir Depressionen vielleicht verringern, da niemand mehr gezwungen sein wird, seine Gefühle zu verstecken.

Und deshalb fange ich jetzt an. Ich fange an über Depressionen zu reden.》Ich hole tief Luft. 《Meine Depressionen. Für mich ist das alles, was ich hier gerade empfinde mit einem bunten Bild vergleichbar. Alle sehen die Farben und erzählen dir von ihrer Schönheit, doch nur du siehst den Schwarz-Weiß-Film. Nur du siehst keine Farben. Nun ersetzen wir die Farben mit dem Leben und ihr versteht den Vergleich. Das sind Depressionen für mich. Und ich bin müde. Müde zu hören Wie bunt alles ist, weil ich frustriert bin. Frustriert davon, dass ich es nicht haben kann. Diese Schönheit wegen einem kleinen Fehler. Es ist meine Schuld. Es ist meine Schuld.》Tränen sind in meinen Augen. Doch wieso? Wieso weine Ich jetzt? Was ist traurig? Weine ich wegen dem kleinen Jungen, der mal war, oder mir selbst? Marilyn stellt sich hinter mich und legt eine Hand auf meine Schultern. 《Du schaffst das Holly, du schaffst das.》flüstert sie mir ins Ohr. 《Ich schaffe das.》 sage ich leise zu mir selbst. 《Ich schaffe das.》

《Es war ein Wintertag in New York. Es war frostig kalt, doch ich saß im warmen Auto. Im so warmen Auto und fuhr nach Hause,weil mir draußen kalt war und ich Wärme brauchte. Ich kam auf eine Straße. Es war eine dieser riesigen Straßen in New York und vor mir war ein Auto und fuhr schnell und da wollte ich auch schnell sein. Ich fuhr über 70km/h. Und ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Denn dann war da dieser Junge. Dieser kleine süße Junge. Er hatte blaue Augen. Es waren große Augen. Und da war eine freche Nase und viele Sommersprossen. Ich sah ihn, doch ich sah ihn zu spät. Ich fuhr und bremste gleichzeitig. Doch das Auto wollte nicht bremsen, doch das Auto fuhr weiter. Und dann war ich über ihn drüber und dann gab es einen Ruck und ich wusste, dass er tot war. Und es ging alles so schnell, doch wieso sehe ich es alles in slow-motion? Und jetzt sitze ich hier. Ein Jahr später und es ist immer noch so grau. Meine Welt ist nicht farbenfroh. Meine Welt ist grau schattiert und ich bin eine schwarze Silhouette in ihr. Ich bin ein Jahr lang gerannt in dieser Welt. Dieser trostlosen Welt. Habe es versteckt. Habe es alles versteckt. Es war alles okay. Doch innerlich ging mir die Luft aus. Ein Jahr später blieb ich stehen, denn ich war müde. Denn ich konnte nicht mehr. Denn jetzt konnte ich nichts mehr zurückhalten und die Schuld hatte mich eingeholt. Irgendwann war sie wohl schneller als ich. Und dann plante ich meinen Tod. Denn Rennen fiel weg und da war keine andere Option, als zu sterben. Die Schuld hatte mich umkreist. Gefangen genommen in ihrer Dunkelheit. Das war der Moment, indem ich aufgab und sprang. Ins Eiswasser.》

Es ist still um mich herum. Sehr still. Dann steht jemand auf und klatscht, jubelt, ich höre Bravorufe, während ich zittere. Während ich realisiere, vor wie vielen Leuten ich hier gerade stehe. Während ich am Liebsten wegrennen würde. Während ich am Liebsten alleine sein würde. Ich habe es schon immer gehasst im Mittelpunkt zu stehen. Referate waren ein Alptraum gewesen. Doch dagegen wirken sie harmlos. Denn die Personen hier füllen eine Mensa aus, keinen Klassenraum.

Ich halte mich am Tisch vor mir fest. Stütze mich dort ab, um nicht umzufallen. Dann endlich, ruft jemand meinen Namen. 《Holly?》Es klingt besorgt und es ist Noah. Er rennt zu mir. Blicke auf uns sind nun unwichtig. Er nimmt mich in den Arm und hält mich fest. Hält mich einfach nur fest. 《Ist alles okay?》nuschelt er leise in mein Ohr. Ich schniefe. 《Diese Leute hier. Alle starren uns an. Ich hasse das. Ich fühle mich so nervös und entblößt irgendwie.》Marilyn ist nun auch auf uns aufmerksam geworden und hilft Noah mich aufzurichten und geleitet mich raus aus der Mensa. Blicke verfolgen uns. Besorgt und Erstaunt stellen sie mir alle möglichen Fragen in Gedanken. Ich gucke weg. Kann jetzt nicht hinsehen. Ein Türknall. Ein weiterer Schritt. Stille. Wir sind draußen.

A/N

Sorry, dass lange kein Update mehr kam, aber jede zweite Lehrkraft wollte plötzlich eine Note von uns.

Ich hoffe, ihr mögt das Kapitel:)

How to liveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt