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HOLLY

Die Welt steht still und doch dreht sich die Uhr in diesem viel zu weißen Raum weiter.

Ist das nur ein böser Traum? Ich will es glauben. Ich will glauben, dass das alles nur ein schlimmer Traum gewesen ist und ich gleich aufwachen werde, doch das tue ich nicht, weil ich schon wach bin. Weil ich die ganze Zeit wach gewesen bin. In dem Moment realisiere ich, dass er, die Liebe, die ich nicht mehr finden werde, tot ist und in dem Moment knipst jemand das Licht aus und alles, was ich jemals gefühlt habe, verschwindet. Keine Trauer, keine Freude, keine Wut, keine Liebe, keine Hoffnung, nur Leere. Emotionslos. Und wenn ich vorher gedacht habe, leer zu sein, dann habe ich dieses Gefühl damals wohl noch nicht gekannt.

Damals, ich wusste gar nicht wie viel Glück ich gehabt habe. Doch schon damals hat sich das Leben schwer angefühlt.

Ich trauere, indem ich nichts fühle und doch kommen Tränen und Schreie, so viele Schreie und alle sind sie von mir.

Sekunden vergehen und es hätten Minuten sein können. Stunden vergehen und es hätten Tage sein können. Tage vergehen und es hätten Jahre sein können. Mein Zeitgefühl schwindet. Es ist weg, genauso wie der Rest von mir und doch weiß ich welcher Tag es ist. Wie kann ich ohne ihn überhaupt atmen? Ich brauche ihn so sehr, aber er kommt nicht und er wird auch nie mehr kommen und das weiß ich leider.

Irgendwann erklärt Marilyn mir, dass Noah an mahnischen Depressionen gelitten habe und an dem Tag, an dem er starb, vergaß seine Tabletten dagegen einzunehmen. Anscheinend habe er aber schon die Woche zuvor seine Tabletten nicht mehr eingenommen.Die Depressionen hätten eine halbe Stunde nachdem ich den Raum verließ eingesetzt, konnten die Kameras noch aufzeichnen. Wie er unbemerkt aufs Dach gelangt war, ist ihnen bis heute noch ein Rätsel. Er sprang und fiel 30 Meter tief. Sein Genick brach beim Aufprall. Ein schneller Tod. Sie meint, die Beerdigung sei in einer Woche. Dann verlässt sie den Raum. Endgültig.

Ich stelle keine einzige Frage. Ich weiß, was manische Depressionen sind, doch Noah hat mir nie davon erzählt, dass er welche hat oder nun hatte. Eine Freundin von mir besitzt diese Krankheit ebenfalls. An manchen Tagen war sie überglücklich und an Anderen heulte sie Rotz und Wasser. Als man ihr Tabletten verschrieb, war sie so emotional gefestigt wie jeder Andere auch. Man muss die Tablette täglich einnehmen und Noah nahm sie immer morgens ein, trägt man mir zu. Doch ich habe ihn an entsprechendem Morgen abgelenkt, bin mit ihm in den Park gegangen und habe mir seine Geschichte angehört, sodass er vergaß seine Tabletten einzunehmen, wegen mir. Und eine Woche zuvor nahm er sie nicht ein, wegen mir. Weil er dachte, niemand wolle mehr etwas von ihm hören. Weil er sein Dasein als sinnlos empfunden hat. Weil er meinte, er habe das volle Ausmaß seiner Krankheit verdient. Wahrscheinlich hatte die Wirkung der in der Woche zuvor noch eingenommenen Tabletten eine halbe Stunde nach meinem Verlassen nachgelassen. Ich war schuld. Ich bin schuld. Doch niemand erkennt meinen Schuldspruch an.

Ich schlafe, esse, trinke und schlafe wieder und am nächsten Tag beginnt alles wieder von vorne. Doch am Schlimmsten ist die Leere. Diese unglaubliche Leere, die sich mit der schweren Schuld zu vermischen scheint.

Das erste, was zurückkommt, ist der Hass und mit ihm tausendfach verstärkte Schuldgefühle. Es ist eine seltsame Mischung. Nach sieben Tagen wache ich auf und spüre eine Wut im Bauch. Einen Hass auf alles. Wieso ging Noah? Ich hasse ihn. Ich hasse ihn im Tod. Wieso lief dieser kleine Junge vor mein Auto und wieso passte seine Mutter nicht ordentlich auf ihn auf? Ich hasse sie alle beide. Wieso sahen die Ärzte Noah nicht aufs Dach steigen? Wieso hat niemand auf seine Tabletteneinnahme geachtet? Hier ist doch alles so voller Kontrolle oder ist das doch nur Trug und Schein? Ich hasse sie. Ich hasse so viele Dinge und mich selbst. Ich hasse mich selbst. Wieso habe ich nicht rechtzeitig bremsen können? Wieso habe ich Noah vor dem Einnehmen seiner Tabletten abfangen müssen? Wieso hat Noah mir nicht von seiner Krankheit erzählt und wieso bin ich voll von Schuldgefühlen?

Ich ging nie auf die Beerdigung. Beerdigungen sind für die Lebenden und ich bin nur eine Überlebende. Ein Überrest meiner selbst.

Das zweite Gefühl, was wiederkehrt, ist die Traurigkeit und mit ihr die Trauer. Ich weine und weine und hasse mich selbst an manchen Tagen. An vielen Tagen. Jeden Tag. Es sind seltsame Tage. Traurige Tage. Graue Tage.

Ich fühle mich schwer und bin dauerhaft damit beschäftigt, meine Nase zu putzen. So schwer bin ich. Ein Elefant ist nichts gegen meine Schwere.

Ich trauere um Noah. Lange tue ich das und ich vermisse ihn. Ich vermisse ihn so sehr. Lange tue ich das. Ich bin traurig, weil ich vergesse wie er aussieht. Ich vergesse alles über ihn, nur seine Augen. Nur diese grünen Augen bleiben in meinem Kopf, eingebrannt hinter meiner Kopfhaut. Verewigt und verdammt dort zu bleiben. Oh diese grünen Augen. Wie traurig sie mich jeden Tag machen, ohne dass sie es wollen.

Irgendwann beschließt Marilyn, ich brauche frische Luft. Ich glaube, sie wird mit mir einen Spaziergang im Park unternehmen, doch stattdessen fährt sie mich zu einem Friedhof. Wir gehen die Reihen von Grabsteinen entlang, bis wir Noahs Grab fanden. Allein schon seinen Namen zu lesen, holt mich zurück in die Realität. Alles Gute war einmal.

Ich habe auf dem Weg ein Schneeglöckchen gepflückt und platziere es nun in der Mitte des von Blumen übersähten Grabes. Marilyn begibt sich außer Hörweite um mir Raum zum Trauern zu geben. Ich knie mich auf die von schmelzendem Schnee kalte und nasse Erde. Meine Hose ist durchweicht und ich friere, doch das macht mir nichts aus. Wenn man jemanden verliert, dann hat man für eine Zeit alles verloren, dann kann man nicht mehr tiefer fallen. Und doch sitze ich hier auf der viel zu kalten nassen Erde und falle wieder. Sein Grab lässt mich fallen.

„Lieber Noah, weiß war nie unsere Farbe. Es war schon immer schwarz. Kohlrabenschwarz und doch liegt da ein weißes Schneeglöckchen. Es gibt keine schwarzen Blumen, denn die Welt ist mehr Tag als Nacht und ich vermisse dich. Die Welt ist ohne dich so grau. Alles bewegt sich doch ich stehe immer noch hier. Du warst mein Retter und du warst mehr. Du warst mein Freund und du warst mehr. Du warst meine große Liebe und du warst mehr. Unbeschreiblich viel mehr. Ich werde nicht mehr länger hinterfragen, wieso du mir nie von deinen manischen Depressionen erzählen wolltest. Ich werde nicht mehr länger hinterfragen, wieso du deine Tabletten wegen mir vergessen hast einzunehmen. Ich hinterfrage es einfach nicht mehr, denn wo ist der Sinn in dem Ganzen? Manchmal wünsche ich mir, wir hätten ein Foto zusammen machen können, doch technische Geräte gibt es dort nicht. Dort an unserem Ort. Seltsam das unser Ort eine Psychiatrie ist. Täglich trage ich deine Jacke doch langsam rieche ich nur noch mich selbst. Du bist nicht mehr da und es zerstört mich. Ich weiß nichtmal mehr, was unsere letzten Worte aneinander waren. Also sage ich jetzt was ich als letztes gedacht habe: Ich liebe dich, Noah Young. Ich liebe dich von vollem Herzen."

Natürlich weinte ich währenddessen, aber wer hätte nicht geheult? Die salzige Flüssigkeit strömt über mein Gesicht und reinigt es wie jeden verdammten Tag ohne Noah.

How to liveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt