• 𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 7 •

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Kat

Es sind Stunden vergangen, doch Molly arbeitet immer noch und ich sitze weiterhin an der großen Fensterwand und lasse meinen Blick über den Strand streifen. Gerade will ich aufstehen, um mir ein weiteres Glas Wasser an der Theke zu ordern, als sich jemand mir gegenüber auf einen der Stühle fallen lässt.

„Hi!", die fremde Blondine grinst mich breit an. Dass sie Mollys Kellnerin ist, kann man nicht übersehen. Obwohl auf der Speisekarte kaum Gerichte stehen, trägt sie einen kleinen Notizblock bei sich, aber wer weiß - vielleicht entspricht sie auch einfach dem Blondinen Klischee.

„Hallo", erwidere ich ebenfalls lächelnd.
„Ich bin Fiona", fährt sie bereits fort, so als wäre meine Erwiderung ein Startschuss für sie gewesen, „möglicherweise hat Molly von mir erzählt. Jedenfalls werde ich übermorgen heiraten, wie du wahrscheinlich bei der Versammlung gestern erfahren hast, und ich wollte dich deshalb fragen, ob du Lust hast, zu einer Junggesellinnen Party zu gehen?"

Sprachlos hebe ich die Augenbrauen und das obwohl sprachlos kein Zustand ist, in den ich häufig komme. Normalerweise bin ich diejenige, die wie ein Kindergartenkind in sekundenschnelle Freundschaften schließt, aber Fiona scheint mir dieses Mal einen Schritt voraus zu sein.

„Ich weiß, das klingt alles sehr spontan, aber falls du noch bis dahin bleibst, bist du herzlich eingeladen!"
„Danke!", mehr fällt mir nicht ein. Ich fühle mich noch immer ein wenig überrumpelt.

„Heißt das ja?", ihre blauen Augen strahlen. Das allein lässt mich schon nicken, ohne wirklich darüber nachzudenken.

„Super! Dann bis Freitag!", damit dreht sie sich um und schlendert bereits zurück zu Tresen, wo Molly mit zusammengezogenen Brauen auf sie wartet. Ich sehe, wie sich ihre Lippen bewegen, doch weder ihre Worte noch Fionas Antwort kann ich hören. Dazu mich weiter über dieses Gespräch zu wunder, komme ich auch nicht mehr, denn schon im nächsten Augenblick dringt ein nervtötendes Piepen direkt aus meiner Hosentasche.

Ein Blick auf das Display meines Handys reicht, damit ich mich dazu entscheide, draußen zu telefonieren. Noch während ich auf die Promenade hinaus eile, nehme ich den Anruf an.

„Hallo, Kat hier?", melde ich mich zögerlich. Ich muss mein anderes Ohr zuhalten, um neben dem Rauschen des Meeres überhaupt klare Worte am anderen Ende der Leitung verstehen zu können.

„Guten Tag, Kathleen. Sie werden gleich zu Frau Stiegler durchgestellt", antwortet die neutrale Stimme einer Sekretärin - welche es genau ist, kann ich nicht sagen. Alle drei Angestellten des Landhauses klingen mittlerweile so emotionslos, als hätte das Gebäude, in dem sie arbeiten, auf sie abgefärbt.

Unter anderen Umständen hätte ich mich wahrscheinlich darüber empört, dass schließlich nicht ich diejenige bin, die angerufen hat, aber in diesem Fall bin ich es gewohnt.

„Kathleen Käthe Stiegler!", erklingt eine kühle Stimme am anderen Ende des Apparats, „wo treibst du dich schon wieder herum?"

„Irgendwo in der Welt - wie immer, Mutter!"
„Du weißt, ich hasse deine spaßhaften Erwiderungen - das hier ist schließlich kein Versteck-Spiel, antworte einfach gescheit!"

Natürlich weiß ich das, denn wer sollte Valentina Stiegler, wie sie leibt und lebt, besser kennen als ich, ihre einzige Tochter! Meine Mutter war ihr Leben lang das Paradebeispiel für eine reiche Witwe, die nach dem Tod ihres Mannes dessen ganzes Geld in irgendwelche Wohltätigkeitsveranstaltungen steckt, aber noch nie ein Hospiz von Innen gesehen hat, und wie eine automatisch beschleunigende Murmel ihr Leben lang durch dieselben hohen gesellschaftlichen Kreise gekugelt ist - auch wenn der Murmelvergleich bei ihrer kantigen Persönlichkeit wahrscheinlich nicht sonderlich passend ist.

Und nicht einmal ihr fünfundvierzigster Geburtstag konnte ihre Schärfe abschleifen, obwohl es der Tag war, an dem sie entschloss, die Erschaffung eines Erben als ihre größte Wohltat zu präsentieren: Mich, ein Waisenkind aus einer Favela in Brasilien.

„Ich bin in Kiehsau!", erkläre ich wahrheitsgemäß, auch wenn ich bereits ahne, dass dieses Dorf ihr rein gar nichts sagen wird.

„Wo liegt das?", fragt sie schnippisch, wie erwartet.
„Das ist ein Dorf an der Lübecker Bucht!"
„Weißt du, was angemessen für eine Millionärin in deinem Alter wäre?"

Und ob ich das weiß! Ich kann mich noch genau an den Augenblick erinnern, indem ich meiner Mutter verkündete, dass ich mir die sieben Weltwunder ansehen werde. Es war kurz nach meinem Abitur, als ich in ihr Büro trat und mich verabschiedete. Im Stillen wundere ich mich bis heute, warum sie mir in diesem Augenblick nicht den Geldhahn zugedreht hat, doch egal wo in der Welt ich gesteckt habe, mein Konto wurde kein einziges Mal gesperrt, so als hätte sie im Stillen immer die Hoffnung gehabt, ich in einer Bibliothek über ein Sachbuch stolpern und mich zu einem Studiengang bewerben würde.

„Ich werde noch studieren", verspreche ich und füge in Gedanken ein höhnisches ‚ne, verarscht!' hinzu.
Vielleicht ist es dumm von mir, so zu leben, wie ich jetzt lebe, aber ich muss es tun - ich muss einfach die Kindheit nachholen, die ich in diesem riesigen westfälischen Landhaus verpasst habe.

„Und was wirst du als nächstes tun?", will meine Mutter wissen, auch wenn ich ihr bereits anhöre, dass sie ihre Frage bereut.
„Ich werde sehen, wo es mich hintreibt!"

„Hintreibt?", wiederholt sie fast schon gehässig, „na Hauptsache nicht unter die Wellen!"
„Wird es nicht!"
„Bei dir weiß man nie, Kathleen! Du lebst dein Leben, als wäre es ein Sprung aus einem Helikopter ohne Fallschirm - aber irgendwann wird der Boden in Sicht kommen!"

Mit diesen liebevollen Worten legt meine Mutter auf und ich kann nicht anders, als verstört zu den Wellen zu lächeln, während ich mein Handy zurück in die Hosentasche stecken.

Vielleicht hat sie recht.
Ich könnte jetzt gerade in irgendeiner Universität sitzen, ein beliebiges Fach studieren und mir eine Firma kaufen, um noch mehr Geld zu haben. Ich könnte es, doch in meinem Leben war immer nur die Frage, was ich will!

Wenn der Boden tatsächlich einmal in Sicht kommt, wird das vorbei sein, aber wenn ich jetzt dieses Leben aufgebe, endet meine eigene Freiheit sofort.

„Kat?"
Wie gestochen fahre ich herum. Molly steht im Eingang zur Bar. Ihre Schürze hat sie abgelegt, sodass nun ein lockeres Sommerkleid zum Vorschein gekommen ist, an dem der Seewind leicht zieht.

„Was ist?", frage ich neugierig.
„Ich bin jetzt erst einmal fertig, weil Fiona später einfach abschließt, wenn sie geht. Wollen wir reden?"
„Gerne", lächelnd strahle ich Molly an und genieße für einen kurzen Augenblick einfach nur den freien Fall.

𓅿

Mal sehen, wann der Boden kommt...findet ihr Kats Mutter auch so sYmPaThiScH?

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