• 𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 34 •

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Molly

Fluchend drehe ich mich auf der Stelle. Ich klingle bestimmt schon seit zehn Minuten bei Theo Sturm, doch mein Bruder scheint nicht zuhause zu sein. Eine Tatsache, die ich wahrscheinlich schon längst hätte feststellen können, würden meine Gefühle nicht so mit mir durchgehen. Noch ein letztes Mal hämmere ich frustriert gegen seine Haustür, ehe ich endgültig davon ablasse.
Das kann doch nicht wahr sein! Da brauche ich ein einziges Mal wirklich seinen blöden Bulli und dann ist er wie vom Erdboden verschluckt.

„Gibt es ein Problem oder hast du von Luke die Kunst der Lärmbelästigung gelernt?", erklingt eine Stimme hinter mir. Erschrocken zucke ich zusammen und fahre in derselben ruckartigen Bewegung zu Herr Schiffke herum. Der Bürgermeister steht mit gehobener Augenbraue auf dem Gehweg. Abschätzend betrachtet er mich, während er die Arme vor der Brust verschränkt.

„Entschuldigung, ich muss mir nur wirklich dringend an Theos Auto!"
„Dein Bruder ist vor einer halben Stunde nach Hamburg gefahren, um sich dort mit ein paar Freunden zu treffen."

Ich hinterfrage gar nicht erst, wo Herr Schiffke das schon wieder her weiß, sondern raufe mir nur durch die Haare. Wieso denn heute? Er hat kein einziges Wort von irgendeinem Treffen erwähnt. Ist es so schwer, sich einfach in Kiehsau zu treffen und etwas zu unternehmen?
Dass die Antwort auf diese Frage eindeutig ‚Ja' ist, ignoriere ich ausnahmsweise.

„Wofür willst du dir den Bulli denn ausleihen?", fragt Herr Schiffke weiter. Seufzend gehe ich auf ihn zu und durch das kleine Gartentörchen, das recht schräg in seinen Angeln hängt. Wirklich viele Gedanken um seinen Vorgarten scheint sich mein Bruder nicht gerade zu machen.
„Ich muss zum nächsten Bahnhof und Kat aufhalten."

Im Stillen flehe ich, dass er keine unnötigen Fragen stellt. Offenbar scheint Schiffke meine Bitte tatsächlich zu akzeptieren, denn er meint nur: „Hast du es schon einmal mit dem Bus versucht?"
Beinahe ungläubig starre ich den Bürgermeister an: „Der fährt noch?"

Ich habe seit Jahren nicht mehr in dem alten klapprigen Teil gesessen, das offenbar der einzige Wagen war, den man bereit war, für Kiehsau aufzuopfern. Früher ist der Bus nicht einmal in der Hauptsaison voll geworden, weshalb ich irgendwie geschlussfolgert hatte, dass man ihn endgültig abgeschafft hätte. Ganz stimmt das nicht: Im Grunde habe ich nach meinem Schulabschluss nie wieder an dieses Höllengefährt mit den beängstigend laut ratternden Reifen gedacht.

„Natürlich", meint Herr Schiffke vorwurfsvoll und wirft einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr, „der nächste Bus kommt in zehn Minuten an..."

Schon hetze ich los. Zehn Minuten von hier bis zur Bushaltestelle ist definitiv machbar! Der Bürgermeister scheint noch einen Moment zu brauchen, um perplex dreinzublicken, ehe er mir nachsetzt.

Ungewöhnlich pünktliche zehn Minuten später sitzen wir beide auf zwei alten Polstersitzen im Bus. Trotz meiner Aufregung entgeht mir nicht, wie der Busfahrer, ein alter Mann mit verbitterten Gesichtszügen, uns immer wieder Blicke durch den Rückspiegel zuwirft. Als ich mich wieder einmal von der Lehne löse und ein Stück nach vorne wippe, um meine Aufregung zu unterdrücken, ergreift er endlich das Wort.

„Alles Gute nachträglich, Anton", murmelt er kaum hörbar und fährt um eine Kurve.
Aus dem Augenwinkel kann ich erkennen, wie Herr Schiffke zu lächeln beginnt: „Danke, Ernst."
„Sechzig", fährt der Busfahrer brummend fort, „das ist alt."
„Darf ich dich daran erinnern, dass du zweiundsechzig bist?"

„Durftest du nicht, aber dich von etwas abzuhalten ist ja bekanntlich unmöglich", entgegnet der Mann names Ernst und stößt ein Schnauben aus, das auch ein Lachen sein könnte. Neben mir schmunzelt Herr Schiffke weiterhin, während er durch den Rückspiegel zum Fahrer blickt, der immer wieder dasselbe tut.

Ich bin zu sehr in meine eigenen Gedanken vertieft, um genauer auf das Verhalten der Beiden zu achten. Ab und an sagen sie etwas zueinander, doch ich komme mir vor, als säße nur mein Körper auf diesem Sitz und mein Kopf wäre schon viel weiter. Die Zeit scheint sich in die Unendlichkeit zu ziehen, bis wir endlich den Rand des nächsten größeren Dorfs erreichen. Ich springe regelrecht aus dem Bus, sobald sich die Türen öffnen, doch Schiffke hält kurz inne, um Ernst zum Abschied zu winken. Dieser scheint einen Moment zu stocken, ehe er zögerlich fragt: „Morgen um sieben ein Kaffee bei Petra?"

„Petra hat geschlossen, aber ich habe auch Kaffee zuhause."
Hinter seinem Schnurrbart meine ich Ernst lächeln zu sehen: „Abgemacht!"
Damit schließen sich die Türen und der Bus setzt sich wieder beängstigend ratternd in Gang.

Wie auch zuvor nehme ich kaum Rücksicht auf den Bürgermeister, der erneut überrascht herumsteht, sondern renne einfach los. In Kats Brief stand, dass ihr Zug in drei Stunden fährt. In dieser Zeit muss sie auf den nächsten Bus gewartet haben, hierhergefahren sein und dann hier warten – zumindest hoffe ich das, auch wenn es Kat nicht ähnlich sieht, dass sie diese Zeit einplant. Im Stillen flehe ich zum Himmel, dass Kat einmal vernünftig gewesen ist.

Im Dorf werden mir schräge Blicke zugeworfen, während ich wie von Sinnen an den Fußgängern vorbeistürme. Ich kenne diesen Ort gut. Der Bahnhof, der nicht mehr als ein einsamer Gleis ist, befindet sich nicht weit von der Haltestelle entfernt und doch kommt mir jeder meiner Schritte zu kurz vor. Meine Lunge brennt, aber das ignoriere ich. Das einzige Gefühl, das ich noch mehr als deutlich spüre, ist mein rasendes Herz. Das bleibt auch, als ich die wenigen Stufen zum kleinen Bahnsteig hoch eile, nur um im nächsten Augenblick schnaufend vor dem Wartehäuschen zu erstarren.
Dem leeren Wartehäuschen – um genau zu sein.
Ich schnappe weiter nach Luft, doch meine Lunge scheint nur enger und enger zu werden. Mit jedem Atemzug wird mein Blick verschwommener.

Sie ist weg!

Anders kann ich es mir nicht erklären, wieso ich alleine an dem Gleis stehe. Dennoch treibt mich die Hoffnung zu dem Informationsschild. Mit dem Finger fahre ich die einzelnen Zeilen nach, bis ich endlich die Verbindung finde, die Kat genommen haben muss. Meine Hand erstarrt an derselben Stelle. Ich bin zu spät – eine einzige verdammte Minute zu spät. Im nächsten Moment knallt meine Faust gegen das Schild, aber es bringt nichts. Alles, was es verändert, ist der neu auftretende Schmerz in meiner Hand, den ich abzuschüttelnd versuche, während ich leise vor mich hin fluche.
Verdammt, verdammt, verdammt, das kann doch einfach nicht sein!

Auch wenn ich mir wünsche, ich könnte es verleugnen, habe ich vor meinem inneren Auge schon gesehen, wie ich Kat am Bahnhof erblicke. Ich wäre auf sie zu gerannt und hätte sie geküsst. Dann wäre alles gut geworden. Jetzt bemerke ich erst, wie naiv diese Wortstellung ist. Der rosarote Traum eines kleinen Mädchens.

„Molly?", fragt Herr Schiffke zögerlich.
Schnell wische ich die erste Träne von meiner Wange, die sich heimlich ihren Weg aus meinem Auge gebahnt hat. Erst dann drehe ich mich um.

„Sie ist schon weg!", murmle ich und stolpere mehr als dass ich gehe in seine Richtung.

Dazu sagt der Bürgermeister ausnahmsweise nichts, sondern breitet nur seine Arme aus. Ich lächle gequält, sage aber ebenfalls nichts. Wortlos sinke ich in die Umarmung. Dann geben meine Knie endgültig unter mir nach.

𓅿

Du wirst mein Traum | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt