• 𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 24 •

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Molly

„Er ist wieder nicht gekommen", murmle ich betrübt und lasse mich an der steinernen Wand hinabgleiten, bis ich auf das kalte Gras plumpse. Es ist finster am Meer. Unterhalb der Felsen kann ich hören, wie die Wellen leise am Strand brechen, während der Wind leise rauschend weiter über sie hinweg zieht, nur um schließlich sanft durch mein Haar zu streichen und an der Wand abzuprallen.

Ich sitze hinter dem alten leeren Küstenhaus, das am Ende der Straße steht und beobachte Herr Schiffke dabei, wie er ein Teleskop auf der Wiese errichtet. Genau in diesem Augenblick dreht er sich – offensichtlich zufrieden mit seiner Arbeit – zu mir um.

Sein besorgter Blick findet mich sofort: „Er kommt bestimmt bald!"
„Wann bald? Nächstes Jahr?", ich schnaube in mich hinein. Ich weiß, dass Schiffke es gut meint, doch noch besser weiß ich, dass mein Vater auch nächstes Jahr nicht zu meinem Geburtstag kommen wird. Seit der Scheidung meiner Eltern ist er nie gekommen. Mama hat mir vorgeschlagen, dass wir einen Tripp zu ihm nach Polen machen. Lange habe ich sie wortlos angesehen, bis ich es endlich fragen konnte.

„Hat er gefragt, ob wir kommen können?"
Ihre Antwort war ein trauriges Kopfschütteln. Also habe ich nur genickt und bin wieder zurück in mein Zimmer gegangen.

„Gib die Hoffnung nicht auf, Molly, irgendwann besucht er dich", schwerfällig lässt sich der Bürgermeister neben mir ins Gras sinken, wobei ihm die Seemannsmütze ein wenig ins Gesicht rutscht.

Ich ziehe meine Mundwinkel gequält in die Höhe: „Das können Sie nicht wissen!"
„Aber ich hoffe es genau wie du, Molly!"
„Wieso?"
Schmunzelnd zuckt er mit den Schultern: „Weil ich weiß, was du für eine coole Socke bist."

„Er weiß das nicht."
„Das glaube ich nicht. Nur ein Idiot könnte das übersehen! Wenn ich dein Vater wäre, würde ich bei gelber Fahne quer durch die Ostsee schwimmen, um rechtzeitig zu deinem Geburtstag zu kommen!"

Ich kann mir ein Grinsen einfach nicht verkneifen, als ich nachhake: „Auch bei roter Fahne?"
„Willst du, dass ich ertrinke?", fragt er tadelnd, doch ich erkenne den Schalk in seinen Augen.
„Besser nicht", kichere ich und lehne meinen Hinterkopf gegen die Wand.

Einen Moment lang sitzen wir schweigend dort. Unter uns das Meer, über uns der von Sternen gespickte Nachthimmel und dazwischen wir beide.

„Warum haben Sie keine Kinder, Herr Schiffke?"
Wieder zuckt der Bürgermeister mit den Schultern, bevor er zu einer Antwort ansetzt: „Weil ich nie eine Frau haben wollte."

„Und einen Mann?", frage ich direkt weiter.
Er lächelt schräg auf mich hinab: „Die Frage kam schneller als erwartet."

„Sie sind wie Nesrin, oder?", ich mustere ihn. Im Stillen habe ich mir diese Frage schon oft gestellt, aber noch nie gewagt, sie laut auszusprechen.

Dieses Mal kann Herr Schiffke ein Lachen nicht zurückhalten: „Ich glaube, niemand ist wie Nesrin, aber ich verstehe, wie du es meinst. Ja, Molly, in dem Sinne bin ich wohl wie Nesrin."

„Aber das erklärt nicht, wieso Sie keine Kinder haben!"
„In gewisser Weise schon", er löst seinen Blick von mir und sieht stattdessen hinaus aufs offene Meer, „als ich ein kleiner Junge war, war die Welt noch wesentlich weniger tolerant und eine Gesellschaft ändert sich auch nicht einfach von einem Tag auf den anderen. Ganz egal welche Gesetze erlassen werden."

„Jetzt ist die Welt eine andere!"
„Ja, das stimmt wohl, aber die Person, wegen der ich davon geträumt habe, dass sich die Welt verändern könnte, habe ich fortgeschickt, weil ich nicht geglaubt habe, dass mein Traum jemals in Erfüllung gehen könnte."

Ich will etwas erwidern, doch Herr Schiffke steht eilig auf und beugt sich zu seinem Teleskop herunter. Mit der linken Hand zeigt er mir an, dass ich zu ihm kommen soll. Schnell rapple ich mich auf.

„Sieh hindurch", mehr sagt er nicht, sondern macht mir Platz. Ich schließe mein eines Auge, um mit dem anderen besser durch das Rohr spähen zu können. Es dauert ein paar Herzschläge bis ich realisiere, was die schnellen glitzernden Geschosse sind, die durch die Dunkelheit jagen. Ein regelrechter Schauer an Sternschnuppen saust über den Himmel, so als würde es funkelnde Edelsteine regnen.

„Alles Gute zum siebzehnten Geburtstag, Molly!"

Das laute Knallen einer Schublade lässt mich aus dem Schlag schrecken. Ich brauche einen kurzen Moment, bis ich mich in der Realität zurechtfinde, doch mehr Zeit wird mir nicht gelassen, bis der Lärm weitergeht.

„Verfluchter Dreck", erklingt lautstark Glitzers schimpfende Stimme.
„Wenn ich dein Schrank wäre, hätte ich schon viel eher den Geist aufgegeben", entgegnet Kat kühl, während ich mich mit steifen Gliedern aus dem Bett zwinge, um in den Flur zu tapsen.

„Wenn du mein Schrank wärst", keift Glitzer in diesem Moment angefressen, „dann wärst du schon längst auf dem Sperrmüll verbrannt worden!"
„Das Ende meines Leidens."
„Unverschämtes Kind!"
„Missgelaunte Dramaqueen."

„Guten Morgen, ihr liebevollen Geschöpfe", grüße ich grinsend, sodass sie beide gleichzeitig zu mir herumfahren. Glitzer schnaubt nur, während Kat mir lächelnd zunickt. Dann drehen sie sich wieder zum Schrank, aus dem eine große Schublade herausgefallen zu sein scheint. Der Inhalt – eine unüberschaubare Masse an Schminke – liegt nun zum Teil auf Glitzers Holzboden. Die andere Hälfte ist offenbar innerhalb der Schublade durcheinandergeraten.

„Ich muss zu Fiona, also halt mich nicht auf, Molly!", brummt Glitzer, der immer noch versucht, das Chaos irgendwie schnellstmöglich zu beseitigen. Mit einem erneuten Schnauben scheint er aufzugeben.

„Hatte ich nicht vor!", meine ich und lehne mich gegen den Türrahmen.
„Gut", er greift nach einer großen schwarzen Tasche, die halboffen neben ihm liegt, „wir sehen uns bei der Zeremonie im Obstgarten!"

Mit diesen Worten springt er auf die Beine und eilt die Hüften schwingend an mir vorbei. Ich kann ihm nur kopfschüttelnd nachsehen, ehe mein Blick zu Kat zurückschweift. Sie hat die Stirn verkniffen in Falten gelegt und versucht anscheinend, die Schublade zurück in den Schrank zu drücken.

„Warte", ich knie neben ihr nieder, „du musst das so-."
Als ich bemerke, wie mich ihre braunen Augen mustern, sehe ich zur Seite. Sofort treffen sich unsere Blicke. Meine Hand auf der Schublade erstarrt.

„Danke", murmelt Kat, richtet ihre Aufmerksamkeit jedoch nicht wieder auf den Schrank. Stattdessen schaut sie mich weiter an.

Ich kann ein heftiges Pochen in meiner Brust spüren. Mit kurzen, kräftigen Schlägen hämmert mein Herz gegen meine Rippen und ich weiß nicht, ob meine schwitzigen Finger daher kommen, dass ich fürchte, meine Knochen könnten bei diesem heftigen Schlagen brechen oder ob es diese unerklärliche Aufregung ist, die sich durch meine Adern schleust.

„Nichts zu danken", entgegne ich, doch die sonstige Festigkeit, die immerzu in meiner Stimme lag, scheint wie weggewaschen zu sein.

„Als ich meine Mutter zur Tür gebracht habe, wollte ich nicht wieder hinaufkommen", platzt es plötzlich aus Kat heraus, so als hätten diese Worte schon viel zu lange auf ihrer Zunge darauf gewartet, endlich ausgesprochen zu werden.

Ich kann erkennen, wie ihre Schultern leicht zittern, während ihr Blick für den Hauch einer Sekunde von meinen Augen hinab zu meinen Lippen gleitet.

„Wieso nicht", schaffe ich es zu fragen.
Sie lächelt auf eine Art, die mein Herz unschlüssig zwischen der Entscheidung stehen lässt, noch schneller zu schlagen oder einfach endgültig stehen zu bleiben.

„Weil ich Angst hatte, dass das, was zwischen uns zu sein schien, wieder weg sein würde, wenn ich zurückkomme."
„Und? Ist es das?"

Wieder sieht sie einen Wimpernschlag lang tiefer: „Ich denke nicht."

𓅿

Es tut mir leid, dass das Kapitel verspätet kommt! Hatte die letzten Tage viel um die Ohren! ❤️

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