• 𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 18 •

48 14 32
                                    

Molly

Noch immer irre ich durch Kiehsau. Mir kam das Dorf noch nie so groß vor, doch als ich jetzt um eine Ecke nach der anderen biege, wirken die Straßen wie ein gigantischer Irrgarten. Es ist mir klar, dass ich Kat schon lange verloren habe. Wahrscheinlich war sie längst bei meiner Wohnung und hat sich von Glitzer ihre Sachen geben lassen, um endgültig zu verschwinden. Ein Wunder wäre es zumindest nicht. Ganz im Gegenteil sogar, ich könnte es verstehen. Die Worte, welche mir entglitten sind, waren alles andere als nett. Schon seit Ewigkeiten habe ich mich nicht mehr so unausgeglichen gefühlt, aber ich kann es mir auch nicht erklären. Die letzten Tage kamen mir wie eine Achterbahn fahrt vor. Mal war ich ganz oben und im nächsten Moment ging es so steil bergab wie nur möglich. Allein in diesem Augenblick rase ich mit tödlicher Geschwindigkeit die Gleise herunter.

„Molly?", Trudis alte Stimme lässt mich innehalten. Suchend sehe ich mich nach Lukes Oma um, bis ich die alte Frau am Rand des Kreisverkehrs entdecke. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass ich bereits wieder im Zentrum des Dorfs angekommen bin. Ich hatte nur Augen für Kat und die ist noch immer nirgends zu sehen.

„Wie kann ich dir helfen, Trudi?", frage ich ein wenig außer Atem, auch wenn ich im Stillen sehnlichst auf ein ‚gar nicht' hoffe. Am liebsten würde ich einfach weiterstürmen. Irgendwo hier muss Kat noch sein – sie muss einfach!

„Ich wollte dich nur fragen, wo du hinläufst, Mädchen, es wurde doch eine Versammlung einberufen!"
Ich kann ein Schnauben einfach nicht unterdrücken: „Will Schiffke einen neuen Rekord brechen oder gibt es dieses Mal ausnahmsweise etwas weltbewegendes."

„Wahrscheinlich beides", kichert Trudi leise, „aber Ilse meinte, es gäbe Neuigkeiten zu Nesrin."
Überrascht sehe ich die alte Dame an. Damit habe ich tatsächlich nicht gerechnet. Nach Fionas Hochzeitsabsage hatte ich weder von ihr noch von ihrer Verlobten irgendetwas gehört und war auch nicht davon ausgegangen, dass es so bald Neues geben würde.

„Kommst du dann?", fragt Trudi, die sich bereits dem Gehen zugewendet hat. Mit kleinen Schritten dackelt sie in Richtung Rathaus. Einen Moment lang zögere ich. Mein Blick huscht die Straße entlang, weg vom Zentrum. Genau in dieser Sekunde könnte Kat in den Bus steigen und Kiehsau ein für alle Mal verlassen. Ich kann nicht sagen, was ich bei diesem Gedanken fühle, aber es ist durch und durch verwirrend.
Endlich gelingt es mir, meinen Blick von der Straße zu lösen und ich folge Trudi eilig zum Rathaus.

Im Versammlungsaal ist es bereits ziemlich voll. Man müsste meinen, dass die Dorfbewohner irgendwann so genervt von Schiffke sind, dass sie nicht mehr kommen, doch irgendwie scheinen alle hier das ungesunde Pflichtbewusstsein zu besitzen, immer wieder aufzutauchen, ganz egal ob es einen sinnvollen Grund gibt oder nicht. In der hintersten Reihe entdecke ich wie auch beim letzten Mal Cady und ihre Begleiterin, die sogleich die Frage in mir aufwerfen, von wem sie immer Bescheid gesagt bekommen – aber wer weiß, vielleicht haben sie auch einfach sehr gute Instinkte, was Schiffkes Problemzeiten betrifft.

Im Grunde könnte man zu jeder Tageszeit sagen ‚Schiffke hat jetzt bestimmt irgendetwas zu verkünden' und es würde mit einer erschreckend hohen Wahrscheinlichkeit stimmen. Genau dieser steht bereits hinter seinem Pult und tippt ungeduldig mit den Fußspitzen auf und ab. Selbst für seine Verhältnisse sieht er ungewöhnlich aufgeregt aus.

„Spann uns nicht weiter auf die Folter, Schiffke!", beschwert sich meine Oma Margot in der ersten Reihe laut stark. Mein Grandpa neben ihr grummelt auf Englisch seine Zustimmung, während auch die meisten um sie herum nicken. Offenbar lässt der Bürgermeister schon lange mit seinen Neuigkeiten auf sich warten.

„Als erstes möchte ich Molly bitten, die Tür hinter sich zu schließen!"
Sofort tue ich wie geheißen, ehe ich still neben Luke auf die hinterste Bank gleite. Schon huschen die abwartenden Blicke von mir wieder zurück zum Bürgermeister.

„Hast du irgendeine Ahnung, was er dieses Mal plant?", raune ich Luke flüsternd zu. Der Blondschopf schüttelt bloß wortlos den Kopf, was mich dazu bringt, meine Aufmerksamkeit ebenfalls zurück auf Schiffke zu richten, der sich in diesem Moment auffällig räuspert.

„Wir alle wissen, dass Nesrin vor kurzem ins Krankenhaus eingeliefert wurde."
„Nesrin wurde was?", erklingt eine verwirrte Stimme.

Die ganze Menge ruckt zu dem rothaarigen jungen Mann herum. Jan sitzt mit vor Überraschung eingezogenem Kopf in der letzten Reihe und scheint sich in Gedanken an einem Unsichtbarkeitszauber zu versuchen, doch es gelingt ihm nicht, vor den vielen Augenpaaren zu verschwinden.

„Bekommst du denn nie was mit?", fragt Trudi vorwurfsvoll.
„Ich war auf Geschäftsreise!"
Verwundert ziehe ich die Augenbrauen zusammen. Wie kann es sein, dass nie jemand mitbekommt, dass Jan regelmäßig verschwindet?

„Wo warst du?", will Luke neben mir wissen.
Ich glaube bereits ein leises Stöhnen der Menge zu hören, doch Jan hingegen strahlt meinen Sitznachbar: „In der Schweiz! Ich kann jetzt sogar jodeln und schweizerdeutsch, wollt ihr-."

„Okay", unterbricht Herr Schiffke ihn ungewohnt scharf, „wir haben schon verstanden: Du darfst kostenlos zur Sprachtherapie, aber deshalb sind wir nicht hier."
Sofort folgt plattdeutsches zustimmendes Gemurmel.

„Wann warst du in den letzten Jahren eigentlich mal nicht weg?", brummt meine Oma kopfschüttelnd, sodass es mehr wie ein Vorwurf als eine Frage klingt.

„Das ist jetzt nicht die leitende Frage, Frau Goldblum", versucht der Bürgermeister zu verhindern, dass noch weiter auf dem Thema herumgekaut wird, „wir sind hier, weil Nesrin, die – für alle, die meinen, sich nicht an dieser Gemeinschaft beteiligen zu müssen – seit Freitag im Krankenhaus gewesen ist, weshalb die Hochzeit abgesagt wurde. Nun gibt es jedoch gute und schlechte Nachrichten. Welche möchtet ihr zuerst hören?"

„Die Guten", ruft Trudi entschieden. Der Stille nach zu urteilen, scheint keiner Einwände zu haben.
„In Ordnung: Nesrin wird morgen früh entlassen und hat noch bis Montagabend Bettruhe."

„Und das bedeutet für uns?", fragt Lukes Vater in der Reihe hinter uns ein wenig verwirrt.
„Das, Bruder, bedeutet, dass wir die Hochzeit am Dienstag feiern müssen, damit die Beiden am Mittwoch einen Flug nehmen können, um wenigstens noch ein paar Tage auf Island zu verbringen."

Mit einem Schlag ist es im Saal so mucksmäuschenstill, dass man wahrscheinlich eine fallende Stecknadel hätte hören können. Auch ich habe für einen Augenblick meine Sprache verloren. Das kann Herr Schiffke nicht ernst meinen! Es – es macht einfach keinen Sinn!

„Am Dienstag?", wiederholt Luke neben mir, der als erstes wieder etwas hervorbringen kann. Aus den Gesichtsausdrücken der Versammelten lässt sich schließen, dass keiner glauben kann, was der Bürgermeister soeben verkündet hat.

Herr Schiffkes Antwort ist nur ein entschiedenes Nicken, dass meine Kinnlade endgültig herabklappen lässt, denn Dienstag ist kein geringerer Tag, als der sechzigste Geburtstag unseres vor uns stehenden Bürgermeisters.

𓅿

Lasst die Vorbereitungen beginnen! 😂

Meinem Zeigefinger geht's übrigens besser, auch wenn Tippen immer noch bisschen schmerzhaft ist. 😅

Du wirst mein Traum | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt