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Der Mensch ist ein Tier. Getrieben von Instinkten. Der mächtigste von ihnen ist der zu überleben. Wirf einem Ausgehungerten einen Brocken hin und er wird sich darauf stürzen. Gib einem Gefangenen die Chance sich zu befreien und er wird alles tun. Lass ihnen die Wahl, ob sie oder ein anderer – sie retten sich selbst. Sogar die Tugendhaftesten unter ihnen legen jeden Rest von Gewissen in Eile ab, wenn sie nur zu sehr um ihr eigenes Leben fürchten. Im Grunde sind sie nichts weiter als armselige Geschöpfe, Sklaven ihrer niedersten Triebe.

Davon war Sturmbannführer Brandur Andersen völlig überzeugt. Es war eine der vielen Konstanten in seinem Leben, derer er sich sicher sein konnte, wie das Verhör und das Geständnis, das zweifelsfrei darauf folgen musste. Letztlich machte dieser Überlebensdrang einen nicht unwesentlichen Aspekt seiner Arbeit aus. Die Wissenschaft bestand nämlich darin, Menschen in diesen Zustand zu versetzen, in dem jegliche Vorstellungen von Moral ausgehebelt wurden und nichts weiter den Verstand regierte als der reine Instinkt. Nicht anders bewegte man jemanden dazu, ein Bekenntnis seiner Sünden abzulegen und selbst seine Liebsten zu verraten. Bei ihm taten das alle – früher oder später. 

Es war ein Prozedere, dessen verschiedenste Variationen dem Gestapo-Beamten bis ins kleinste Detail vertraut waren. Für ihn war es nun nichts weiter als ein fast eintönig gewordener Bestandteil seines Alltags. Einst ein aufregender Erfolg, wurde ihm indessen jedes Geständnis zu einer neuen Trophäe in Aktenform. Am Ende des Tages stellte man sie zu den anderen.
Zumindest hätte er das gedacht. 

Es war der Morgen des 16. Oktobers 1942, ein Freitag, an dem er die verregneten Straßen Wiens durchquerte, und zum ersten Mal seit Jahren empfand Brandur bei dem Gedanken an die bevorstehende Vernehmung eine jähe Erregung.

Denn heute würde er nicht irgendjemandem im Verhör gegenübersitzen, sondern möglicherweise demjenigen, den sie seit Monaten verfolgten. Schwalbe, so der Deckname, war die meistgesuchte Person im gesamten Reich. An der Spitze der Widerstandszelle „Roter Turm" hatte sie sich einer Unzahl an Verbrechen schuldig gemacht, von der Verbreitung von hetzerischen Flugblättern, die zum Ungehorsam aufriefen, über die Unterstützung reichsfeindlicher Operationen in besetzten Gebieten bis hin zum Mord an hochrangigen SS-Offizieren. Die Verfolgung hatte den Kriminalrat durchs gesamte Reich bis nach Wien geführt, wo er die letzten Monate ohne Rast daran gearbeitet hatte, Schwalbe dingfest zu machen. Und jetzt, in diesem Augenblick, konnte es sein, dass eben jene Person im Gestapo-Hauptquartier in einer Zelle saß – unter dem Namen Ziona Aschkenasy.

Die Kälte drang langsam durch seinen Mantel und das stetige Prasseln des Regens auf seinen Schirm wurde hörbar lauter, während er den fast verlassenen Stephansplatz überquerte. Brandur wusste selbst nicht, wieso er sich heute dazu entschieden hatte, zum ehemaligen Metropol zu gehen, doch er dachte, der Fußmarsch von seinem Hotel zur Gestapo-Zentrale würde ihm nach der schlaflosen Nacht helfen, klar zu werden und sich zu sammeln.

 Üblicherweise hätte er um diese Zeit noch, je nach Laune, einen großen Schwarzen oder einen Kapuziner im Café Central oder dem von ihm favorisierten Café Deutschland am Kärntner Ring eingenommen. Doch mit dieser Tradition brach er heute. Wacher hätte Brandur trotz der letzten Wochen und vor allem Tage ruheloser Arbeit nicht sein können.

Seit die Frau in der Nähe eines weiteren ermordeten SS-Offiziers verhaftet worden war, hatte Andersen kaum ein Auge zugetan, jeden einzelnen Fall aufs Neue beleuchtet. Vergangene Nacht hatte er schließlich begleitet von unzähligen Tassen Kaffee stundenlang Aschkenasys Akte gelesen, wieder und wieder, und dann zusätzliche Stunden auf die in seinem Hotelzimmer aufgestellte Pinnwand gestarrt, an der er alle wichtigen Fakten zu den Verbrechen gesammelt hatte.

Siebzehn Morde. Seit dieser Woche achtzehn.
Carl Gustav Macalek, Standartenführer, 38.
Eduard Humboldt, Brigadeführer, 48.

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