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Die Frau, die in dem kahlen Raum saß, war ihm bereits vertraut. Brandur kannte ihr Gesicht in- und auswendig, hatte er es doch auf den Bildern genaustens studiert. Das spitze Kinn, die Narbe an einer der geschwungenen Augenbrauen, die kleine Nase. Jede Rundung, jede Kante. Häufig verrieten sie nämlich längst mehr über die Fotografierten, als ihnen selbst bewusst war. 

Geändert hatte sich an ihr auffallend wenig. Das schwarze Haar war zwar zerzauster und strähnig, die geröteten Augen untermalt von dunklen Schatten und sie schien noch schmäler und blasser geworden zu sein als sie es auf den schwarz-weißen Fotografien war. Doch der Sturmbannführer hatte andere in kürzerer Zeit in schlechteren Zustand verfallen gesehen. So mancher ließ nach drei Tagen solcher Behandlung jeglichen Widerstand in seiner Zelle zurück.
Ziona Aschkenasy dagegen schien erschöpft, aber ungebrochen.
Eine Zähe. Dacht ich's mir doch.

Andererseits wäre ihm alles andere eine Enttäuschung gewesen. Hinter Schwalbe konnte schließlich nicht nur ein armseliger Schwächling stecken, der gleich einknickte. Und damit verhärtete sich Andersens Verdacht, dass sie nicht nur zur falschen Zeit am falschen Ort befunden hatte.

Das Trommeln ihrer Finger auf die Tischplatte verstummte, als sich die Tür geöffnet hatte, und sie hob den Blick zu den Männern, die eintraten. In dem dunklen Blau spiegelte sich keine Angst – Brandur hatte es auch nicht erwartet. 

Ziona Aschkenasy war klein und zierlich, vielleicht ein wenig zu mager, wie die Vermerke in der Akte es bereits vermuten hatten lassen. Wie auf dem Foto, so auch in der Realität war ihr Gesicht reizvoll, der schwache Überbiss für den Beobachter sogar eher eine charmante Eigenheit als ein Makel. Ja, er konnte sich vorstellen, dass sie hübsch gemacht und lächelnd – statt ernst und ungewaschen wie jetzt – einen Standartenführer Macalek, wie auch alle seine toten Kollegen zuvor, zu bezaubern vermochte. Gut möglich, dass sie tatsächlich die war, mit der er gesehen wurde. 

Eigentlich ganz ansehnlich. Wäre es nicht das Gesicht einer Ratte.

Dennoch schien es dem Beamten jetzt noch unglaublicher, dass sie eine Serienmörderin sein sollte, die dazu fähig war, SS-Offiziere zu meucheln. Jedoch wusste Andersen, wie gewaltig der erste Eindruck täuschen konnte – hinter der unschuldigsten Fassade verbargen sich oft die dunkelsten Abgründe. Hinter dieser steckte möglicherweise Schwalbe.

Gemächlich schritt er auf den Tisch zu, legte die Akte auf der 120 mal 80 Zentimeter großen Fläche ab und setzte sich. Jennings folgte und ließ sich auf den Stuhl daneben fallen.
Der gewohnte Ablauf. Ein Verhör wie jedes andere. Dasselbe Zimmer mit dem vergitterten, schmalen Fenster, den zwei Tischen – der größere in der Mitte und der kleinere verwaist in einer Ecke des Raums – und dem obligatorischen Hitlerbild an der Wand. Heute betrachtete Brandur all das jedoch nicht mit Augen, denen dieser Anblick vertraut war. Nein, dieses Verhör war anders. Vor ihm saß nicht irgendeiner dieser Schädlinge, sondern ein besonderer, den zu beseitigen ihm einen ganz neuen Grad an Anerkennung zuteilwerden ließe.

Bisher war der Rote Turm wie ein Phantom gewesen. Erwischte man einen, hatte man viele. Durch diese erfuhr man von den nächsten und so weiter. Das galt für die meisten dieser Rattennester, mit deren Aushebung sich Andersen brüstete. Nicht so für sie. Jede der wenigen Spuren verlief sogleich ins Nichts. Keines der vereinzelten Mitglieder, die der Gestapo in die Hände gefallen waren, hatte auch nur irgendeine brauchbare Information geliefert. Heute konnte sich alles ändern.

Schweigend schlug der Kriminalrat die Akte auf, scheinbar um sie aufmerksam zu lesen. Natürlich kannte er jedes Wort darin. Stattdessen las er in ihr – Ziona Aschkenasy.

Die meisten Menschen waren sich nicht im Klaren, wie viel sie von sich verrieten. Auf den Fotos in ihren Karteien, mit jeder Regung, jedem Atemzug und Wimpernschlag, während sie davon überzeugt waren eine undurchschaubare Maske aufgesetzt zu haben. Trotz allem wirkte die Frau auch unter genauerer Betrachtung seltsam gefasst, jedenfalls mehr als es viele andere auf diesem Stuhl bisher getan hatten. Sie beobachtete ihn wachsam, aber nicht unfreundlich und dermaßen unerschüttert von der immer länger andauernden Stille, dass es ihn befremdete. Nur an seiner linken Hand, präziser an der Stelle an der sich Ring- und kleiner Finger hätten befinden müssen, verharrte ihr Blick kurzzeitig. Nichts, was ihm nicht schon alltäglich schien. Aber da war eine Unruhe in ihren zarten Beinen und Händen, die sich rastlos immer einige Millimeter bewegten, einmal hier, einmal da platziert wurden oder am Stoff ihrer schmutzigen Kleidung nestelten.

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