𝐈𝐈𝐈

310 29 89
                                    

In Ziona tobte der Krieg der des Menschen ureigensten Instinkte – Kampf oder Flucht. Doch wie kämpfen? Wohin flüchten? Keinen dieser Wege stand ihr offen und damit fand die Jüdin sich gefangen zwischen diesen beiden Trieben, unfähig einem davon zu folgen. Stattdessen blieb ihr lediglich – nichts. Ein simples Ergeben gegenüber dem Unabwendbaren. Als sähe Ziona vor sich ihren König in einem geschickt gesponnenen Netz gefesselt. Kein Ausweg. Man schritt dem längst festgeschriebenen Ende mit jedem weiteren Zug entgegen.

Den Blick hinaus in die Finsternis gerichtet, kreisten ihre Gedanken immer wieder um dieselben Fragen.
Was wussten sie? Was ahnten sie nur? Hielt man sie für eine Mörderin oder bloß eine Komplizin oder – oder gar für unschuldig an der Tat? Vielleicht war sie nicht die Einzige in der Nähe gewesen?

Lächerlich. Selbstverständlich verdächtigte man sie – und völlig unabhängig davon, ob man sie für schuldig befinden würde, war sie verloren. Einmal in den Klauen der Gestapo, würde man sie wohl kaum wieder laufen lassen. Auf ihre Gnade oder Glück durfte sie sich nicht verlassen. Ihren letzten sicheren Ausweg aus der Situation hatte Teufel wenige Minuten zuvor an sich genommen.

Die SS-Männer dachten natürlich nicht daran, ihr die quälende Unsicherheit zu nehmen, während der Wagen durch die finsteren Straßen Wiens rollte, bis er schließlich beim ehemaligen Hotel Métropole zum Stehen kam. Bloß eines war sich Ziona Aschkenasy schmerzlich bewusst: Für viele bedeutete dieser Ort den Vorhof zur Hölle, den sie nicht wieder verließen – oder lediglich, um woanders ihr Leben zu verlieren. So manche Mitglieder des Roten Turms hatte dieses Monster bereits gefressen und alleine ihre Überreste wieder ausgespuckt. 

Wer Gestapo und Lager überlebte, hütete sich, auch nur ein Wort darüber zu sprechen, was dort drinnen vor sich ging – aus Scham, aus Schock, aus Angst. Wagte es jemand doch, holten sie ihn noch einmal. Den Herren in ihren Anzügen und Uniformen gefiel die Wahrheit über sich selbst nicht. Deshalb hatten sie immerhin die Lüge zu ihrer Weltordnung erhoben.

Mit einem innerlichen Schaudern blickte Ziona die Fassaden des historistischen Gebäudes hoch, als sähe es sie zum ersten Mal wie an jenem Herbsttag vor über zwanzig Jahren, an dem sie mit ihrem Vater den Franz-Josephs-Kai entlang spaziert war. Die elegant gekleideten Gäste, die es betraten und verließen und mit ihren teuren Karosserien vorfuhren, hatten sie ebenso fasziniert wie das Hotel selbst. Ohne ganz zu verstehen, wovon er sprach, hatte sie den Erläuterungen Leopold Herz' gelauscht, doch noch heute erinnerte sie sich an jedes einzelne Wort über die Bauelemente, den Stil der italienischen Renaissance. 

„Mitkommen." Rottenführer Schützmann wirkte nun keinesfalls mehr unbeholfen oder gar freundlich. In seinen Augen zeichnete sich pure Abscheu ab, befeuert dadurch, dass er ihr – einer Jüdin – geglaubt hatte, ihre Identität nicht erkannt hatte, sie vielleicht auf den ersten Blick gar hübsch gefunden hatte. Und so eine Unerhörtheit durfte für einen wahren Arier, einen strammen SS-Mann nicht sein. Wie leicht erhielt der fragile Glaube an ihre Übermacht doch Risse.

Ziona folgte Teufel und Schützmann durch den Lieferanteneingang ins Gebäude, das unter diesen Umständen recht wenig an seinen alten Glanz erinnerte. Wieso waren sie überhaupt hier in der Salztorgasse und nicht am Morzinplatz? Verdiente jemand wie sie es nicht, das Métropole durch den Säulengang vorne zu betreten?

So verstohlen; fast als wollten sie ihre Verbrechen verstecken, schoss es ihr durch den Kopf, als sie noch einen letzten Blick zurückwarf, auf das, was man Freiheit nennen hätte können.
Während sie die Treppen erklommen, dämmerte ihr, warum man sie – und wahrscheinlich unzählige davor – ausgerechnet auf diesem Weg ins Gestapo-Hauptquartier brachte. Der Grund war so simpel wie erschreckend: Die Gitter, die sie bis nach oben begleiteten. Sie erstickten jeden vagen Plan, sich durch einen Sprung in die Tiefe ihrer Gewalt zu entziehen, im Keim.

VerhörWo Geschichten leben. Entdecke jetzt