Das Rasiermesser, ein kleines Flugblatt und die Kennkarte mit dem darauf prangenden roten J wogen in Ziona Aschkenasys Manteltasche schwer wie Zement. Sie waren das einzige, das ihr an diesem Abend zum Verhängnis werden konnte, denn die Ärztin hatte sich in jeder Hinsicht in eine Unsichtbare verwandelt.
Mit dem schlichten veilchenblauen Kleid, Hut und ihrem schönsten Überzieher schien sie in jeder Menge zu verschwinden. Am wichtigsten war allerdings die Stelle an ihrer Brust – leer. Kein gelber Stern. Mehr bedurfte es nicht, um sich ohne weiter Aufmerksamkeit zu erregen durch die abendlichen Straßen Wiens zu bewegen.
Unbehelligt betrat sie das Paradies. Keiner der Anwesenden hätte in der jungen Frau, die selbstbewussten Schrittes die Bar durchquerte, eine Jüdin vermutet. Nachdem ihre prüfenden Blicke Ziona verrieten, dass niemand hier war, der sie kannte und diesen entscheidenden Umstand damit ändern konnte, setzte sie sich.
Wie fast jeden Abend hatte sich eine Vielzahl von SS-Männern in kleinen Grüppchen in den Räumlichkeiten eingefunden. Sie tranken, lachten, tanzten oder küssten die Frau in ihren Armen, während draußen die Welt für unzählige Menschen unterging.
Früher hatte Ziona das Paradies gemocht. Die schlicht gehaltene Einrichtung aus Mahagoniholz verlieh ihm sofort eine gewisse Gemütlichkeit. Dennoch konnte man erkennen wie beim Bau keine Kosten und Mühen gescheut worden waren. Was dem Mobiliar an Raffinesse fehlte, wogen die Marmorsäulen, die nahtlos in die kassettierte Decke übergingen wieder auf. In den vielen Spiegelflächen reflektierten die Lichter der Lampen und überallhin warfen sie Bilder heiterer Menschen. Wie oft war Ziona auf einer derselben dunkelgrünen Lederbänke gesessen? Damals allerdings mit Freunden, um entspannt einen Abend ausklingen zu lassen. Heute war sie alleine und hier, um einen Mord zu begehen.
Wenige Jahre konnten unglaublich viel ändern. Die gesittete Gesellschaft, die das Lokal einst frequentiert hatte, war durch eine schwindelerregende Anzahl schwarzer und grauer Uniformen ersetzt worden, an denen ihr Hakenkreuze und Totenköpfe bedrohlich entgegenlachten. Viele der Lieder, die vor vier Jahren noch regelmäßig auf der kleinen Bühne gespielt wurden, waren jetzt verboten. Entartet, wie sie sagten. Nun gab eine junge Blondine, die Lilian Harvey nachzueifern schien, einen deutschen Schlager zum Besten. Und den Blick auf die Straße verhinderten schwere Vorhänge, die der Verdunklung geschuldet waren.
Damit bloß kein Bomber dieser ganzen Bagage mit einem Knall ein Ende bereitet.Schade um ihr schönes Wien wäre es gewesen, aber bei näherer Betrachtung war daran ohnehin nicht mehr viel schön und ihr Wien erst recht nicht. Die Stadt war vor Jahren schon von einem invasiven Tumor befallen worden, der sich in jeder noch so kleinen Gasse manifestierte. Für eine Resektion war es längst zu spät, denn die Krankheit hatte sich zu weit ausgebreitet. Sie machte alte Freunde zu Feinden und Menschen zu Monster. Die einzige Rettung kam ironischerweise durch die feindlichen Truppen und sie brachte immer Zerstörung mit sich. In Anbetracht dessen, was in ihrer Heimat momentan vorging, wäre es nicht das Schlimmste gewesen.
„Und dann sag ich ‚Ich erkenne doch einen Juden, wenn ich ihn sehe'", beendete ein junger SS-Mann seine Erzählung lautstark und die anderen brachen in Gelächter aus.
Wieso sollte auch ausgerechnet dieser Ort von den Veränderungen verschont geblieben sein? Jede positive Erinnerung an alte Zeiten war sogleich von der bitteren Realität weggespült. Über dies war Ziona nicht hier, um sentimental in solchen zu schwelgen, sondern hatte einen Auftrag zu erfüllen.
Und dessen Name war Carl Gustav Macalek.Ziona kannte den Standartenführer mittlerweile gut. Seine Gewohnheiten, seine kleinen Schwächen, während sie ihm nach wie vor eine Fremde war. Aber so musste das auch sein – den Feind kennen, bevor er dich kommen sieht, geschweige denn ahnt, dass er sich in jemandes Fadenkreuz befinden könnte.
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Verhör
Historical Fiction» Das Leben ist bloß ein grausames Spiel. Verlieren der Tod. « Wien, 1942. Ein Gestapo-Beamter, Meister des Verhörs, der die Geständnisse der Menschen wie Trophäen sammelt. Eine Widerstandskämpferin, meistgesuchte Person im Dritten Reich. Beide s...