Sturmbannführer Brandur Andersen hatte sich an diesem Tag noch kein einziges Mal an seinen Schreibtisch gesetzt. Gerade eben erst hatte er den Verhörraum verlassen, Befehle an die Beamten im Sonderkommando Roter Turm erteilt, das Verhörprotokoll der Stenotypistin zur Abschrift vorgelegt, dem mittlerweile erschienen Schacht eine Standpauke gehalten und das Büro betreten, da stand er bereits vor dem Fenster, blickte auf den Kai hinaus und ließ das Gespräch in seinen Gedanken Revue passieren. In diesen Momenten war er froh über die Lage des Raumes.
Um diese Zeit begann nämlich zunehmend die übliche Betriebsamkeit am Morzinplatz zu herrschen: Inhaftierte wurden über den alten Dienstboteneingang zum Verhör hierhergebracht oder wieder abgeführt. Beamte gingen ein und aus. Aufrechte Bürger, die bei der Gestapo etwas melden wollten. Aber auch Angehörige derer, die in ihrem Gewahrsam waren. Sie ließen es sich nicht nehmen, nach ihrem Wohlbefinden zu fragen und regelmäßig Essen und saubere Kleidung zu bringen, die keinen der Adressaten jemals erreichten. Manche beobachteten das Gebäude nur. Nicht allzu lange. Doch hier und da, blieb einer stehen, sah die Fassade für einige Augenblicke hinauf und dachte an den Liebsten, Freund oder das Kind hinter den Mauern. Aber sie wussten, dass Bittgesuche und Geschenke keinen Zweck hatten, fürchteten vielleicht sogar, selbst verhaftet zu werden. Also senkten sie hastig den Blick und liefen weiter.
Es wäre Brandur zu schwer gefallen, nicht in ihre von hier oben zu kleinen Gesichter zu sehen und zu analysieren, weswegen sie hier waren.Ob es wohl jemanden gab, der mit dem Gedanken an Ziona Aschkenasy das alte Metropol ansah? Einer vom roten Turm? Ihr Mann jedenfalls nicht.
Zwar bestanden gewisse Unklarheiten über die Umstände Isaak Aschkenasys Todes – unsaubere Arbeit –, aber das war bei solchen Fällen nichts weiter Ungewöhnliches. Wenn man als Jude mit falschen Papieren die Grenze überqueren und schließlich flüchten wollte, wurde nicht viel gefragt, sondern geschossen. Mit Details befasste man sich nur rudimentär. Und so blieb der knappe Bericht, dass er in einem Zug nahe der schweizerischen Grenze mit gefälschtem Ausweis erkannt worden war und sich der Verhaftung durch einen Sprung aus dem Fenster gefolgt von Schüssen entzogen hatte. Einer der letzteren oder ein Genickbruch, so genau fragte niemand, durfte dann auch sein Ende gewesen sein.
Vielleicht ein Motiv?Zwischen seinen drei Fingern drehte er die Schachfigur, während die andere Hand eine Zigarette an seine Lippen führte.
„Und? Was schreibt die Zeitung?", fragte er unvermittelt, ohne sich umzudrehen. Wie erwartet erhielt er seine Antwort von dem überraschten Jennings ein wenig verzögert.
„Vorstoß tief in das nördliche Stalingrad. Fünfundzwanzig Briten über Malta abgeschossen", begann er die Schlagzeilen zu zitieren, immer wieder unterbrochen vom Rascheln der Seiten des Völkischen Beobachters. „...Und wir haben gegen die Schweiz verloren."„Wie?", fragte Brandur verwirrt.
„2:1. Schon wieder. Wirklich eine Schande."
„Ach ... Fußball. Ich wusste nicht, dass Sie sich dafür interessieren." Er würde es sich merken.
„Wer tut das nicht?", fragte der junge Oberscharführer ein wenig amüsiert.
Andersen ließ sein Schweigen antworten.„Wir sollten noch einmal in die Wohnung."
Obwohl er die Reaktion nicht sah, konnte der Kriminalrat doch erahnen, wie Jennings hinter ihm erstaunt aufblickte.
„Weshalb? Denken Sie, es wurde etwas übersehen. Glauben Sie mir, Herr Sturmbannführer, wir machen keine solchen Feh –"„Ich zweifle nicht daran, dass Sie sauber gearbeitet haben", – Brandur wandte sich zu Beppo um
Mit immer noch aufgeschlagener Zeitung stand der Kriminalassistent an den Schreibtisch gelehnt. Für einen Moment schlug er seinen Blick auf die Hände nieder. Die Geste schien beinahe Beschämung auszudrücken, doch die blauen Augen unter den langen Wimpern waren nicht betrübt, sondern nachdenklich. Für einen anderen hätte der Ernsthaftigkeit in dem Knabengesicht etwas Komisches angehaftet. Wie ein Kind, das angestrengt nachdachte.
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Verhör
Historical Fiction» Das Leben ist bloß ein grausames Spiel. Verlieren der Tod. « Wien, 1942. Ein Gestapo-Beamter, Meister des Verhörs, der die Geständnisse der Menschen wie Trophäen sammelt. Eine Widerstandskämpferin, meistgesuchte Person im Dritten Reich. Beide s...