Kapitel 8

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Emma legt die Blumen, die sie auf der Wiese gepflückt hat, auf das frische Grab und starrt verbissen auf den neuen Erdhügel. Wir sind umgeben von Erdhügeln. Manche sind kaum noch zu erkennen, weil sie keine Hügel mehr sind und der Wald sie sich längst wieder einverleibt hat. Manche sind noch sehr deutlich zu sehen und stammen aus den letzten Jahren, in denen Dad dazu übergegangen ist, Emma und mich seine Opfer entsorgen zu lassen.

Es sind ein paar Tage vergangen, seit ich Dad im Keller zusehen sollte und ich einfach geflüchtet bin. Obwohl er mir gedroht hat, Emma büßen zu lassen, wenn ich nicht bleibe, ist nichts passiert, wofür ich ihm dankbar bin. Ich habe nicht oft Grund, ihm zu danken, dieses Mal schon. Die Frau ist an diesem Tag gestorben und über ihrem Grab steht die Zahl 31. Aber in meinen Träumen ist sie nicht nur die 31, in meinen Träumen hat sie panische Augen, schreit grell und wehrt sich gegen meinen Griff. Dads Grauen hat für mich ein Gesicht bekommen. Wenn Emma mich nicht jede Nacht in den Armen halten würde, würde ich zerbrechen.

»32«, sage ich leise und beginne, die Zahl in den Baumstamm zu ritzen. Seit wir die Körper vergraben, haben wir begonnen, die Gräber unter Bäumen anzulegen und den Opfern zumindest eine Zahl zu geben, wenn wir schon nicht ihre Namen kennen. Emma wollte es so. Sie wollte, dass wir uns zumindest über ihre Zahlen an sie erinnern können.

Emma stellt sich an das Fußende des Grabs, faltet die Hände vor ihrem Schoß und senkt den Blick, so wie wir es aus dem Fernsehen kennen. »32 hatte schwarzes, wunderschönes Haar. Ihre Augen waren grün wie Moos auf dem Waldboden und sie war sehr hübsch. 32 hat bis zu ihrem Ende gekämpft, das leider viel zu schnell kam«, erzählt sie.

Viel mehr wissen wir nicht über die Frau, die wir eben begraben haben. Nur, dass die Polizei sie sucht, selbst aber ihren Namen nicht kennt. Sie wissen nur, was die Kamera aufgezeichnet hat: Zwei Männer, die sie in der schützenden Dunkelheit der Nacht vor einer Bar angesprochen und sie in einen Transporter gelockt haben: Dad und ich. Es ist erst drei Tage her. Keiner scheint die Frau zu vermissen. Solange ich mich zurückerinnern kann, hat Dad niemals so schnell hintereinander gejagt.

Ich stelle mich neben Emma, nehme ihre Hand, senke pflichtbewusst den Blick und murmle ein Amen. Ich erinnere mich noch an ihre schreckgeweiteten Augen, als die Frau aus der Betäubung erwacht ist und mich entdeckt hat. Ich habe gerade den rostigen Ring um ihr Fußgelenk geschlossen und konnte ihrem Fußtritt nur knapp entkommen. »Es tut mir leid«, habe ich ihr gesagt, woraufhin sie mich angefleht hat, sie gehen zu lassen. Das erstickende, schuldbewusste Gefühl in meiner Brust hat mich den Raum fluchtartig verlassen lassen. Ich erinnere mich auch daran, wie zart ihre Haut sich unter meinen Fingerkuppen angefühlt hat, als ich ihr die Kette umgelegt habe. Jetzt klebt ihr Blut und Walderde an meinen Händen.

»Gehen wir?«, frage ich Emma, weil mich dieses Schuldgefühl so sehr durchdringt, dass ich nur noch wegwill, um ihre Augen aus meinen Gedanken zu bekommen. Und den Wunsch, ihre warme lebendige Haut noch einmal berühren zu können. Dad hat mich bei ihr nicht gezwungen, zuzusehen, aber seit ich es bei der anderen Frau tun musste, ist selbst der Gedanke, dass ich ihm dabei helfe, Frauen zu stehlen, kaum noch zu ertragen für mich. Es fühlt sich jetzt anders an, weniger bedeutungslos. Weniger wie ein Job.

Emma hebt die Schaufel vom Boden auf und lehnt sie an einen Baum in der Nähe, wir werden sie bestimmt bald wieder brauchen. »Ja«, sagt sie leise und emotionslos. Ich kann mich noch erinnern, als die toten Frauen sie noch mehr mitgenommen haben. Manchmal habe ich das Gefühl, sie kommt besser mit den Toten zurecht als ich. Mich erschüttern ihre geschundenen, ausgemergelten, verletzten Körper. Das Blut, das ihre ehemals weiße Haut verschmutzt. Die vielen grünen, blauen und violetten Flecken. Aufgerissene, aufgeschnittene Haut. Erbrochenes. Pisse und Kot.

Weil mein Schatz ein Serienmörder istWo Geschichten leben. Entdecke jetzt