Kapitel 1

396 23 3
                                    


12 Jahre zuvor

Liam

»Du bleibst hier«, befiehlt mein Vater mir. Er geht weg, ohne mich noch einmal anzusehen, aber ich weiß, dass sein Gesicht die Vorfreude zeigt, die ich schon mein Leben lang kenne. Ich weiß, warum wir mit dem weißen Transporter in die Stadt gefahren sind, er die Nummernschilder entfernt hat und er nicht will, dass ich mitkomme, sondern hier am Auto warte. Wir haben dieses Spiel schon ein paar Mal gespielt. Ich weiß genau, was passieren wird, weil ich Dad schon oft dabei beobachtet habe.

Jedes Mal fahren wir in eine andere Stadt, aber es ist immer das gleiche Spiel: Dad geht in ein kleines Geschäft, eine Bar oder eine verlassene Straße und spricht eine Frau an. Er sagt ihr nette Dinge, wie sehr ihm ihre Augen gefallen würden, wie hübsch sie wäre, wie schön ihr Lächeln wäre. Dann erzählt er von seinem Sohn, der am Auto wartet, mit dem irgendetwas nicht stimmen würde, da seine Mutter aber kürzlich gestorben wäre, wüsste er nicht, was er tun solle. Meine Aufgabe ist es, verheult und todunglücklich auszusehen. Dafür sorgt er, indem er mein Gesicht mit Dreck beschmiert und mir dann Wasser ins Gesicht spritzt. Dann soll ich anfangen zu heulen, sobald er mit der Frau zum Transporter kommt. Und ich soll vor dem offenen Transporter stehen, so dass er sie in den Laderaum stoßen kann, sobald sie zwischen den geöffneten Türen steht und niemand sie mehr sehen kann.

»Warum weinst du?«, möchte jemand wissen. Ich löse den Blick von der noch schaukelnden Schwingtür, durch die mein Vater gerade verschwunden ist und entdecke ein kleines rothaariges Mädchen, das mich aus großen grasgrünen Augen verwundert und irgendwie auch ein wenig besorgt ansieht. Sie sitzt auf einem mechanischen Pony, das sich nicht bewegt. Ich bin 8 Jahre alt, andere Kinder in meinem Alter besuchen längst die Schule, ich nicht. Meine Mutter unterrichtet mich zu Hause. Das Mädchen ist viel jünger als ich. Höchstens 6 Jahre alt. Sie sitzt auf diesem Pony in einem weißen Spitzenkleid mit bunten Blumen und tut so, als würde sie das Pony reiten, dabei schwingen ihre geflochtenen Zöpfe lustig auf und ab. Als sie bemerkt, dass ich sie mustere, bleibt sie plötzlich still sitzen, legt den Kopf auf eine mädchenhaft niedliche Art schief und sieht mich lächelnd an.

»Warum weinst du?«, will sie wieder wissen.

Ich verziehe das Gesicht zu einem boshaften Grinsen. Sie soll nicht glauben, ich würde weinen, weil mir das peinlich ist. »Ich weine nicht«, sage ich hart und schiebe die Hände in die Taschen. Sie soll auch nicht meine verdreckten Nägel sehen. Sie ist so hübsch und fein und niedlich, dass ich mir neben ihr irgendwie schäbig vorkomme mit meinem verdreckten Gesicht, den schmutzigen Nägeln und den zerschlissenen Lumpen, die ich am Leib trage. Sie wirkt viel mehr wie eine Puppe als wie ein Mädchen. Ein Spielzeug. Sie gefällt mir.

»Du siehst aber so aus«, widerspricht sie.

Ich trete nahe an sie heran, werfe einen Blick auf den offen stehenden Transporter, der darauf wartet, gleich eine Frau zu verschlucken, und als ich mir sicher bin, dass ich nicht zu weit weg bin, um die Türen schnell zuwerfen zu können, bleibe ich neben ihr stehen und beuge mich näher zu ihrem Gesicht. »Sehe ich aus, als würde ich weinen? Ich weine nicht«, setze ich sie drohend in Kenntnis und denke keine Sekunde daran, dass die Kleine gleich sehen könnte, wie Dad und ich eine Frau stehlen. Dad hasst Zeugen.

Sie atmet erleichtert aus, dann lächelt sie wieder und zeigt mir ihre winzigen weißen Zähne. Sie hat noch nicht mal eine Zahnlücke. Ich habe welche, zwei oben und eine unten. Sie ist eben noch viel jünger als ich, deswegen fühle ich mich gleich viel stärker. Ich beuge mich noch näher zu ihr und atme tief ein. Dad macht das bei den Frauen auch immer. Den Geruch der Frauen mag ich nicht, die meisten stinken regelrecht nach irgendetwas süßem, blumigen. Aber das Mädchen, sie riecht nach Sonne und Spielplatz. Und nach Schokoladeneis. Wahrscheinlich dem Eis, das einen dicken Fleck auf ihrem weißen Kleid hinterlassen hat. Mitten auf ihrer Brust. Er sieht aus wie ein ein wenig unregelmäßiges Herz. Oder wie die Flecken, die das Blut der Frauen auf dem dunklen Kellerboden hinterlassen, wenn Vater mit ihnen fertig ist.

Weil mein Schatz ein Serienmörder istWo Geschichten leben. Entdecke jetzt