Kapitel 19

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Menschen gehen an mir vorbei, ohne mich zu beachten. Frauen, Männer, Kinder. Sie lachen, reden und manche starren sogar, während sie an mir vorbeigehen, auf ihre Telefone. So vieles, was ich sehe, kenne ich nur aus dem Fernsehen. Ich fühle mich beengt, die Geräusche um mich herum erdrücken und verängstigen mich. Stürzen auf mich ein und lassen mich panisch zurückweichen, bis ich mit dem Rücken gegen den Transporter stoße.

Vier Wochen sind vergangen, seit wir den Mann beerdigt haben. Vier Wochen haben wir auf der Farm verbracht, ohne zu wissen, wie unser Leben jetzt weitergehen soll. Wir haben die Tage damit verbracht, die Tiere zu versorgen, die Ställe auszumisten und den Garten auf den Winter vorzubereiten. Liam hat die Hunde im Zwinger erschossen und sie wie seinen Vater im Wald begraben. Nicht dort, wo all die anderen Körper liegen, sondern weit weg von ihnen, weil wir es nicht richtig fanden, den Mann neben Mutter und all den anderen Frauen zu beerdigen.

Es hat vier Wochen gedauert, bis wir uns gewagt haben, den Schutz der Farm zu verlassen. Liam fällt es viel leichter als mir, sich hier draußen in der unendlich erscheinenden Welt zu bewegen, aber ich habe die Farm seit so vielen Jahren nicht mehr verlassen. Nichts hier draußen fühlt sich bekannt für mich an. Ich beobachte Liam, der mit einem Händler über den Preis für einen Korb Kartoffeln verhandelt, die wir von der Farm mitgebracht haben, um Kleidung und Lebensmittel zu kaufen. Er weiß genau, was er tun muss, wahrscheinlich, weil er es so oft bei dem Mann gesehen hat.

Ein kleines Mädchen mustert im Vorbeigehen meine zerschlissene Kleidung, als sie meinen Blick bemerkt, lächelt sie schüchtern, greift nach der Hand ihrer Mutter und eilt weiter. Eine Frau ruft einen Namen, winkt und freut sich, als eine andere Frau sich zu ihr umdreht und zurückwinkt. Nicht weit von mir steht ein Liebespaar. Sie lehnen an einer Wand, neben einem Schaufenster, und küssen sich. Ich beobachte fasziniert, wie locker sie miteinander umgehen. Sie lacht über etwas, das er sagt. Er senkt seinen Kopf und küsst ihren Hals.

Als Liam die Schlafzimmertür geöffnet hat, war ich so durchgefroren, dass ich ihn erst gar nicht bemerkt habe. Ich hatte mich unter der Decke zusammengerollt, jeder Muskel in meinem Körper hat gezittert, meine Finger waren ganz steif von der Kälte und tief in mir drin, habe ich zum ersten Mal seit Langem wieder gebetet. Nicht, weil der Mann es wollte, sondern weil ich es wollte. Ich habe gebetet, endlich tot sein zu dürfen. Der Mann hat mich nicht noch einmal angefasst, aber als Liam die Decke von meinem Körper gezogen und mich hochgehoben hat, habe ich aufgeschrien und um mich geschlagen, obwohl mir die Kraft dazu gefehlt hat. Liams Hände auf meinem Körper kann ich bis heute kaum ertragen, weswegen er in der Küche und ich in unserem Zimmer schlafe. Jeder für sich gegen die eigenen Dämonen kämpfend.

Liam kommt zurück zum Transporter. Er stellt den Korb auf die Ladefläche und mustert mich besorgt. »Geht es dir gut?«

Ich versuche mich an einem Lächeln. »Es fühlt sich merkwürdig an«, gestehe ich. »Aber ich schaff das schon.«

»Wir können auch zurückfahren«, schlägt er vor. »Ich könnte morgen nochmal allein herkommen.«

»Nein«, stoße ich schnell aus. »Schon gut, ich muss mich daran gewöhnen. Einkaufen, das macht doch jeder.« Ich zucke lässig mit den Schultern und zeige auf einen Buchladen ein paar Meter weiter. »Ob es dort Bücher über Wikinger gibt?«

Liam lacht. »Ich könnte für dich nachsehen.«

Ich winde mich innerlich. Mich zieht es weg von hier, aber ich möchte auch nicht sofort wieder zurück und ich weiß, dass ich lernen muss, mit allem klarzukommen. Davor wegzulaufen, wird uns nicht helfen. Kleine Schritte, hätte Mom gesagt. »Bitte, aber nur, wenn wir uns das leisten können.«

Weil mein Schatz ein Serienmörder istWo Geschichten leben. Entdecke jetzt