Weiße Hexe

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Nach einer halben Ewigkeit stand ich auf und ging nach draußen. Nicht verwundete Männer und Frauen schafften die toten Tymlos aus dem Lager. Der Mann, den ich getötet hatte, wurde an mir vorbei getragen und ich zog meinen Dolch wieder aus seinem Körper. „Siela!" Nefet stürmte auf mich zu, ihr Gesicht war mit Tränen überströmt und auf ihrem Kleid waren Blutspritzer. Sie fiel mir um den Hals.

„Siela, was ist passiert? Wo warst du? Ich habe dich nach dem Kampf überall gesucht." Ich senkte den Kopf und brachte mit brüchiger Stimme heraus: „Mandoo ist tot." Nefet riss entsetzt die Augen auf und stammelte: „Der Heiler ist tot?" Noch bevor ich ihr antworten konnte, kam Ais angerannt und fiel mir ebenfalls um den Hals. „Den Göttern sei Dank! Dir geht es gut!"

Nefet nahm ihre Mutter zur Seite und berichtete von Mandoos Tod. Auch Ais war geschockt. Mir wurde langsam schummerig vor den Augen. Ich konnte das alles immer noch nicht begreifen. Zögernd wandte sich Ais mir wieder zu. „Hat Mandoo vor seinem Tod noch einen neuen Heiler bestimmen können?" „Ja", meine Stimme, war kaum mehr als ein Wispern. Ich räusperte mich und versuchte, meine Stimme zu festigen: „Ich bin der neue Heiler!"

Nossan, der inzwischen hinzu getreten war, Nefet und Ais starrten mich entsetzt an. „Aber.......aber....du verstehst doch gar nichts vom Heilen", sagte Ais schließlich leise. „Doch, ich war jahrelang sein Lehrling." Ich hatte meine Stimme endlich wieder im Griff. „Aber es gab noch nie eine Heilerin!". Nossans Feststellung war mir zwar durchaus bewusst, aber ich hätte nicht erwartet, es gerade von ihm zu hören.

„Ob ihr mich als Heilerin akzeptiert oder nicht, ist mir egal, aber bedenkt die vielen Verwundeten, denen nur ich helfen kann!" Meine Stimme klang leicht trotzig, aber das war mir egal. Nossan überlegte und blickte die Menschen an, die sich um uns versammelt hatten. Fast die Hälfte war verwundet. „Ich lasse mich und meine Enkel bestimmt nicht von dir versorgen, weiße Hexe!" Die ältere Frau spie mir die letzten Worte nur so entgegen, dann drehte sie sich um und verschwand. Ihr folgten Weitere.

Den verbliebenen Rest überblickend, sagte Nossan: „Hilf denen, die sich helfen lassen wollen. Wir reden dann später weiter." Die Leute, die noch dageblieben waren, folgten mir zum Heilerzelt. Erleichtert stellte ich fest, dass Mandoos Leichnam inzwischen weggebracht worden war. Ich bat die Verwundeten, eine Schlange zu bilden, mit den dringendsten Fällen zuerst. Nach ein paar Scherereien konnte ich mit der Behandlung beginnen.

Es dauerte bis die Sonne des neuen Tages schon sehr hoch stand, alle zu versorgen. Meist waren es leichte Stichwunden oder Schnittverletzungen, bei denen ich eine Paste aufstrich um Entzündungen zu vermeiden. Einem Mann war der Arm so stark zertrümmert worden, dass ich den Arm abnehmen musste. Auch wenn es gerade erst früher Mittag war, wollte ich nach getaner Arbeit einfach nur auf mein Lager fallen und mindestens einen Tag lang schlafen. Als ich jedoch ins Zelt trat, belehrte mich die kleine Versammlung, die wahrscheinlich nur auf mich gewartet hatte, eines Besseren.

„Siela!" Nefet war die Erste, die mich bemerkte. Vazal neben ihr drehte sich sofort zu mir um. Nach und nach drehten sich auch Nossan, Ais und die Stammesältesten um. Mit Schrecken erkannte ich Tlen unter ihnen, die Frau die vorhin als erstes das Wort gegen mich ergriffen hatte. Ich kratzte all meinen Mut zusammen und sah jedem einzelnen in die Augen, um abschätzen zu können, von wem ich Hilfe erwarten konnte.

Der Ältestenrat war so verklemmt, was Änderungen anging, dass ich von ihnen keine Hilfe erwarten konnte. Auch Nossan schien es nicht sonderlich zu gefallen, mich als Heilerin zu sehen. Vazals Meinung konnte ich nicht abschätzen, dafür kannte ich ihn nicht gut genug. Also blieben nur noch Ais und Nefet, die sich, so hoffte ich jedenfalls, auf meine Seite stellen würden. Nossan räusperte sich: „Also, ich habe diesen Rat einberufen, um über das Geschehene zu diskutieren." Er legte eine kurze Pause ein. „Während des Überfalls wurden fünf Männer, sieben Frauen und ein Kind getötet. Die Verwundeten konnten wir noch nicht genau zählen. Nun befindet sich leider auch unser Heiler unter den fünf getöteten Männern, was einige Schwierigkeiten hervorruft."

„Stimmt es, was diese Hexe hier behauptet? War sie wirklich Mandoos Lehrling?" „Ja!" Es hörte sich an, als hätte ich gerade die größte Sünde gestanden. „Hexe!" Tlens Gesicht sagte deutlich, dass ich hier nichts zu sagen hatte. „Wir hätten sie damals gleich töten sollen, als wir sie fanden." Sie warf mir einen Blick zu, der von ihrer Mordlust zeugte. „Wir haben Siela damals aufgenommen und sie ist als Tochter Nossans aufgewachsen." Ais Augen sprühten vor Zorn. „Aber es gab noch nie eine Heilerin" sagte ein alter Mann von weiter hinten. Tlen sprang sofort darauf an: „Es bringt Unglück! Eine Frau als Heiler ist das Gleiche wie eine Hexe! Sie wird diesen Clan vernichten, wir können das nicht zulassen!" „Siela hat heute mehr Leuten das Leben gerettet, als jeder einzelne von euch in seinem ganzen Leben." Ich lächelte Nefet dankbar an.

 „Wer sagt das? Wahrscheinlich fallen morgen alle tot um, weil die Hexe zu unfähig ist."

Dieser Kommentar ließ die Bombe explodieren. Keiner hielt sich mehr zurück, alle fauchten, kreischten oder schrien sein Gegenüber an. In diesem tosenden Lärm kristallisierten sich allmählich drei unterschiedliche Parteien heraus. Die kleinste Partei, bestehend aus Ais, Nefet und Vazal, schrien was das Zeug hielt, um mich zu verteidigen. Die Gegenpartei, bestehend aus fünf Frauen mit Tlen an ihrer Spitze, kämpften, als würde ihr Leben davon abhängen. Und schließlich die dritte Partei, bestehend aus Nossan, den verbliebenen Ratsmitgliedern und mir, die sich aus dem Wortgefecht so gut es ging raus hielt. Es dauerte nicht lange, bis ich sah, wie die Ais-Nefet-Vazal-Partei langsam unter den Wortbomben unterging.

Ich tippte Nossan an und machte ihm verständlich, dass ich mich jetzt selbst verteidigen wollte. „Ruhe!" Nossans durchdringende Stimme brachte innerhalb eines Augenblickes alle zum Verstummen. Bevor jemand anderes die Stille durchbrechen konnte, ergriff ich meine Chance: „Ich weiß, dass ich weiß bin. Ich weiß, dass ich anders bin. Ich bin keine von Euch, eine Fremde, die nur dank Nossan und Ais überleben konnte.

Eine Fremde, die viele damals, als ich als Neugeborenes im Wald lag, lieber umgebracht hätten. Ais hat mich gerettet und mich aufgezogen. Ich habe überlebt, aber ihr, ihr hattet nichts besseres zu tun, als mir jeden Tag aufs Neue zu zeigen, dass ich nicht dazu gehöre. Eure Kinder habt ihr vor mir weggezogen, wenn ich mit ihnen spielen wollte und mir böse Blicke zugeworfen, wenn ich lachte. Ich habe alles versucht, um von euch respektiert zu werden. Doch eure Reaktionen waren Schläge, böse Worte und Abweisung.

Mandoo jedoch hat mich gesehen, er hat gesehen, wie ich mich bemühte und wie sehr eure Zurückweisung mich schmerzte. Er wollte mir helfen, mir das Gefühl geben, dass ich mehr bin als ein faules Stück Fleisch, dass man wegwirft. Und er hat es geschafft. Zum ersten Mal wurde ich gebraucht, zum ersten Mal wurde ich gefragt, ob ich helfen könnte. Er hat mein Selbstvertrauen wieder aufgebaut. Aber er wollte nicht nur mich retten und mir helfen. Nein, er wollte etwas in diesem Clan verändern, er wollte euch zum Umdenken bewegen. Deswegen machte er mich zu seinem Lehrling und lehrte mich alles, was er wusste. Vor drei Monaten schließlich hat er meine Lehre für beendet erklärt. Er wollte mich offiziell als Heilerin dieses Clans einführen und sich dann zur Ruhe setzen. Doch ich habe ihn zurückgehalten, ich hatte immer noch Angst. Ihr habt mich mein ganzes Leben zurückgedrängt und ihr habt es geschafft. Jetzt ist es zu spät, ich habe aus Feigheit alles verspielt, woran Mandoo glaubte. Also bitte ändert eure Meinung, tut es, um Mandoo zu ehren, wenn ihr es schon nicht für den Clan oder für mich tut. Denkt um!

Ich bin keine Hexe, ich will niemandem etwas Böses. Ich will nur helfen und irgendwann vielleicht sogar mal euren Respekt. Ich bin wie eine von euch aufgewachsen, ich glaube an die gleichen Götter wie ihr, ich habe eine Mutter, einen Vater und eine Schwester. Und mein einziges Ziel ist es diesem, meinem Clan zu dienen, ihn zu schützen und ihm zu helfen. Über Jahre habe ich die Fähigkeiten dazu erlernt. Bitte lasst mich euch helfen."

In der nun folgenden Stille trat Ais hinter mich und legte ihre Hände auf meine Schultern. Nefet hatte Tränen in den Augen und auch einige der Ältesten schauten nicht mehr ganz so feindselig. Ohne noch einmal die Stimme zu erheben verließ ich schnellen Schrittes das Zelt. Ich floh zu meiner Blumenwiese und verließ mein sanftes, schützendes Gras erst wieder als die Nacht hereinbrach.

Als ich das Zelt betrat waren weder Nossan noch Ais da. Ich wusch mich, kämmte meine Haare und legte mich ins Bett. Später als Nossan und Ais wieder ins Zelt kamen, stellte ich mich schlafend und spürte wie Ais mir einen sanften Kuss auf die Stirn gab und flüsterte: „Mein großes starkes Mädchen!"

Sintalis - Weiße RoseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt