„Was zum Teufel machst du hier?", Gervais stürmte herein, griff wild nach mir und erwischte meinen Arm. Den Anwesenden hatte es die Sprache verschlagen und mir ging es nicht anders. Gervais umschlang meinem Arm schmerzhaft und zog mich zum Ausgang. Um nicht hinzufallen, versuchte ich seinen riesigen Schritten zu folgen. Er zog mich durch die ganze Stadt, bis wir in seinem Haus ankamen und auch dort ließ er meinen Arm nicht los. „Was hast du dir dabei gedacht? Du hättest die Kinder vergiften können. Du... Du..." Er keuchte und fand keine Worte mehr. Ich ergriff die Chance mich zu verteidigen. Obwohl er mich weiterhin am Arm festhielt, versuchte ich mich so gut es ging aufzurichten und meine Schultern zu straffen: „Ich wusste von Anfang an, was das für eine Krankheit ist. Ich kannte die Zutaten und deren Zubereitung. Ich habe dir meine Hilfe angeboten, doch du wolltest nichts hören. Was hast du gemacht für die Kinder? Du hast sie seit gestern Morgen behandelt und ihr Zustand hat sich nicht verbessert. Ich habe nur einen halben Tag gebraucht und jetzt würde man kaum noch denken, dass sie je krank waren." Ich holte kurz Luft, redete dann jedoch schnell weiter, um Gervais nicht die Chance zu geben mich zu unterbrechen: „Seit ich hier bin erzählt ihr mir jeden Tag, wie großartig euer Land ist und wie viel ihr in eurem Land wisst. Doch ihr seid hier nicht zuhause. Auch wenn es vielleicht auch nicht meine Welt ist, so habe ich doch mein ganzes Leben hier verbracht. Dieses Land ist anders hier gibt es Krankheiten, die ihr nicht kennt und wogegen eure Pflanzen nicht helfen. Doch die Welt die, wie ihr sagt, euer Gott erschaffen hat, hat euch auch Pflanzen gegen die Krankheiten gebracht, die ihr in den verschiedenen Ecken der Welt findet. Die Pflanzen hier hat euer Gott erschaffen, also würde er doch auch wollen, dass ihr sie benutzt."
Ich sah Gervais an, dass ich ihm den Wind aus den Segeln genommen hatte, doch vollständig war seine Wut noch nicht verraucht. Er schien sich zu sammeln und von seinen vielen Punkten, die er gegen mich vorzubringen hatte, einen rauszusuchen, gegen den ich noch nicht argumentiert hatte. Und natürlich fand er einen. Ich hätte nicht überrascht sein sollen, schließlich war es immer der gleiche Grund, ob nun hier oder bei den Clans. „Nun, aber du bist eine Frau und kein Doktor" brachte Gervais sein Argument vor. Ich sackte innerlich zusammen. Wieder war ich an einem Punkt, an dem ich mich rechtfertigen musste. Warum konnten meine Taten denn nicht für mich sprechen, so wie bei jedem anderen? Gab es denn wirklich keinen Ort, an dem man meine Fähigkeiten wertschätzen würde? ‚Ach Mandoo, so sehr du es dir auch gewünscht hast, scheint es wohl keine Welt zu geben, in der man mich als Heilerin anerkennt.' dachte ich mit einem kurzen Blick zum Himmel.
Resigniert schaute ich zu Gervais: „Nein, ich bin kein Doktor, ich habe nicht ‚studiert' wie du. Ich habe eine Lehre bei dem Heiler meines Clans gemacht. Ich habe mich drei Jahre lang den Pflanzen gewidmet und wie man mit ihnen heilen kann. Dass ich eine Frau bin, kann ich nicht ändern. Mein Ziel ist es Menschen zu heilen und ich bin mir sicher, dass ich es genauso gut könnte wie ein Mann. Ich möchte mich mit niemandem vergleichen, da jeder seine Art hat die Menschen zu heilen. Was ich möchte ist eine Chance mein Wissen einzusetzen, zu lernen und weiterzugeben. Ich kann mich nicht über Gewohnheiten hinwegsetzten, kann nicht gegen den Willen der Menschen handeln. Aber ich mir kann Vertrauen verdienen und aufbauen. Und vielleicht, mit etwas Glück und auch mit der Hilfe von etwas göttlichem Beistand, kann ich Menschen helfen."
Gervais ließ meinen Arm los, drehte sich um und verschwand. Ich kannte ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, dass ich ihm was zum Nachdenken gegeben hatte. Er würde darüber nachdenken und mir später die Entscheidung mitteilen. Obwohl ich nicht wusste, wie die Entscheidung ausfallen würde und ich mir aus Erfahrung keine großen Hoffnungen machte, empfand ich es trotzdem als einen kleinen Sieg. Ich hatte mich verteidigt und meinen Standpunkt klar gemacht und Gervais dazu gebracht diesen zu überdenken. Mit einem Lächeln verließ ich sein Haus und ging zurück zu Yermo. Das Ereignis bei den Kindern schien schnell die Runde gemacht zu haben und ich war mir ziemlich sicher, dass Gervais' Frau eine bedeutende Rolle dabei gespielt hatte.
Das Ergebnis der Klatschtante sah ich, sobald ich das Haus betrat. Vor mir hatte sich ein großer, älterer und grimmig aussehender Mann aufgebaut und versperrte mir den Weg nach innen. Auf ein Wort von Yermo trat er zur Seite und ich konnte an ihm vorbei ins Wohnzimmer gehen, wo Yermo auf dem Sofa saß. In der Hand hatte er seine Pfeife, die er normalerweise nur abends nach dem Abendessen rauchte, da er behauptete es würde ihn beruhigen und beim Einschlafen helfen. Jetzt war es jedoch später Nachmittag und er zog so kräftig an der Pfeife, als wollte er die beruhigende Wirkung erzwingen. Ich traute mich nicht mich hinzusetzen und so blieb ich stehen und wartete darauf, dass Yermo das Wort ergriff: „Du hast dich unerlaubt aus dem Haus gestohlen, bist durch den Zaun geklettert, hast dich draußen sonst wo rumgetrieben und bist still und heimlich wieder zurückgekehrt, nur um dann morgens erneut ohne meine Erlaubnis aus dem Haus zu gehen." Fasste er sachlich zusammen, zog erneut kräftig an der Pfeife und stieß den Rauch aus. „Du hast dich frei in der Stadt bewegt und eine Familie mit einer List dazu gebracht dir zu Vertrauen und ihren Kindern Tee aus Pflanzen von draußen einzuflößen. Ich bin mir sicher, Gervais hat dir seine Meinung zu dem Thema bereits ausführlich mitgeteilt." Ich biss mir auf die Lippen, da in Wahrheit ich eher Gervais dazu meine Meinung gesagt hatte. Yermo zog zweimal an seiner Pfeife und stieß den Rauch ruckartig aus. Ich hatte Yermo bisher nur gefasst und eher kühl erlebt. Meist war ihm kaum ein Gefühl anzumerken. Ihn heute so außer sich zu erleben, jagte mir mehr Schrecken ein, als Gervais, der mich durch die Stadt geschleift hatte.
Yermo deutete auf den großen Mann, der jetzt in der Tür zum Flur stand und diese ebenso gut auch hätte ersetzten können. „Das ist Ruy. Er ist der Kapitän der Wachmannschaft, die wegen dir den ganzen Tag die Umgebung und die Stadt abgesucht hat, um einer möglichen Bedrohung durch deinen Ausflug vorzubeugen." Schuldbewusst schaute ich zu Ruy, der sich nicht regte. Plötzlich stand Yermo auf und mir nun Auge in Auge. „Weißt du eigentlich, wie sehr du dieser Stadt hättest schaden können? Du hättest unseren Feinden einen direkten Weg zu uns zeigen können und am Morgen hätte die ganze Stadt in Flammen gestanden. Und wer weiß, vielleicht hast du ihnen ja sogar einen Tipp gegeben." Ich schnappte nach Luft bei seiner Anschuldigung und konnte nicht an mich halten: „Ich habe niemandem einen Tipp gegeben und würde es auch nie tun. Ich wollte doch nur den Kindern helfen und das habe ich auch geschafft. Nur dank mir ..." Mit einer Handbewegung schnitt mir Yermo das Wort ab. „Ich möchte nichts mehr hören. Du entschuldigst dich jetzt ordentlich bei Ruy, dann gehst du auf dein Zimmer und lässt dich hier heute nicht mehr blicken." Mit diesen Worten drehte Yermo mir den Rücken zu. Zähneknirschend machte ich einen tiefen Knicks vor Ruy und formulierte in den schönsten Worten, die man mich gelehrt hatte, meine Entschuldigung. Ruy blickte mich kaum an, salutierte nur in Richtung von Yermo und verließ dann mit großen Schritten das Haus. Ich schlich auf Zehenspitzen nach oben und verkroch mich unter meiner Decke. Wie konnte ein einziger Tag nur lang genug sein, um so viele Gefühle zu durchleben?
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Sintalis - Weiße Rose
Historical FictionSiela lebt im Clan der Malos bei ihren Adoptiveltern, dem Clanoberhaupt Nossan und seiner Frau Ais. Scheinbar unüberwindbare Hindernisse trennen sie von der Welt ihres Adoptivclans und machen ihr das Leben schwer: Vorurteile, Mistrauen und Verschwör...