Endlich hatte ich wieder ein Ziel vor Augen. Ich machte mich auf in die Richtung, in der ich das große Wasser vermutete. Meine Hoffnung war, dass ich zwischendurch Menschen treffen würde, die mir den Weg weisen konnten. Zunächst einmal blieb ich auf dem kaum sichtbaren Pfad. Bei Flüssen machte ich halt, fischte ein oder zwei Fische und sammelte in der Umgebung genug Essen, sodass ich drei bis vier Tage damit auskam, dann musste ich erneut einen Tag einlegen, in dem ich mich versorgte. So verging die Zeit und mein Ziel vor Augen hob meine Stimmung beträchtlich.
Während der Tage, in denen ich dem schmalen Pfad folgte, vertrieb ich mir die Zeit indem ich an die Menschen dachte, die so aussahen wie ich. Ich konnte mir nicht vorstellen in ein Gesicht zu gucken, welches eventuell die gleichen blauen Augen hatte wie ich, oder Haut zu berühren, von der sich meine nicht im geringsten abhob. Keila hatte gesagt, dass sie anders waren. Ich fragte mich, ob ich mich mit ihnen verständigen konnte. Würden wir die gleiche Sprache sprechen oder würden sie so sprechen wie die Twinkikis oder vielleicht ganz anders? Wie würde es sein jemandem gegenüber zu stehen, dem man so ähnlich sah, ihn aber nicht zu verstehen?
Bei diesem Gedanken musste ich daran denken, dass ich vermutlich meinen Eltern ähnlich sehen würde. Ob sie wohl im Lager der Weißen Menschen lebten? Und waren sie noch am leben, vielleicht auch nur einer von ihnen? Hatte ich vielleicht noch Geschwister? Und warum wurde ich damals ganz alleine im Wald gefunden? Wollten sie mich loswerden oder bin ich verloren gegangen? In meinem Kopf hatte ich schon seit frühester Kindheit die wildesten Theorien zu meiner Geburt und warum ich einsam im Wald gelegen hatte. Doch mit einem Mal hatte ich ein Körnchen gefunden, ein Puzzlestück, welches mich hoffentlich bald zur Wahrheit führen würde.
Nachts, bevor ich einschlief stellte ich mir vor meinen Eltern zu begegnen. Ich malte mir alle Möglichkeiten aus. Mal waren sie es beide, die mich in Empfang nahmen, mal nur einer von ihnen, dann war es keiner von ihnen, sondern nur mein Bruder oder meine Schwester. In meiner Vorstellung weinten und lachten sie alle und schlossen mich in den Arm, sie fragten mich wo ich gewesen war und erklärten mir warum sie nicht bei mir waren. Sie entschuldigten sich, dass sie nicht nach mir gesucht hatten und hatten immer einen sehr guten Grund dafür. Dann nahmen sie mich in die Familie auf und Ais, Nefet und ihr Kind gleich mit. Ich stellet mir vor wie ich zwischen meiner Familie, die mich aufgezogen hatte und der Familie von meinem Blut stehen würde und endlich wüsste, dass ich dort hingehörte.
Jede Nacht schlief ich mit einem Lächeln ein. Vorstellungen, die nicht mit einer solchen Zusammenkunft und dem Gefühl endeten dazuzugehören erlaubte ich mir nicht. Ich war durch und durch positiv gestimmt und konnte mir nicht vorstellen, dass es anders verlaufen könnte, als in meinen Fantasien. Immer fröhlicher folgte ich Tag für Tag dem Pfad, der kaum merklich breiter wurde.
Eines Nachmittags an dem ich erneut träumend von meiner Zukunft in der Gegend umher sah, während ich vergnügt einen Schritt vor den anderen setzte überhörte ich das Knacken eines Astes und ging unbeirrt weiter. Aus dem Nichts wurde seitlich etwas gegen mich gerammt und ich fiel zu Boden, während das Etwas schwer auf mir landete. Völlig benommen und verwirrt, warum ich mit einem Mal Erde einatmete, hatte ich kaum begriffen, dass dies ein Überfall war, als mir auch schon die Hände zusammengebunden wurden. Das schwere Etwas auf meinem Rücken verschwand und zog mich stattdessen hoch. Immer noch benommen und mir die Erde aus den Augen reibend stand ich da und blinzelte meine Angreifer an.
Es waren drei kräftige Männer, die mich misstrauisch ansahen. Einer von ihnen hatte meinen Beutel in der Hand. Alle drei waren bewaffnet, jeder mit einer anderen Waffe. Der mit meinem Beutel hatte einen Bogen und einen Köcher auf dem Rücken, während der Mann neben ihm ein Speer trug und der dritte mit einer unglaublichen Sammlung von Messern bewaffnet war. Nachdem mich die Männer offensichtlich lange genug gemustert hatten, sprachen sie leise miteinander. Ich konnte nicht genau verstehen, was sie sagten, meinte jedoch, dass sie meine Sprache sprachen, wenn auch mit einem Dialekt. Der Mann mit dem Speer wandte sich zu mir und gab mir mit den Händen zu verstehen ihm zu folgen. Aus mangelnder Alternative folgte ich ihnen gehorsam. Wir gingen ein ganzes Stück und der Tag neigte sich bereits dem Ende, als wir in die Nähe des Lagers kamen. Wie ich es jetzt schon bei den anderen gesehen hatte bildete eine Feuerstelle die Mitte des Lagers und zu dieser Zeit des Abendessens tummelte sich dort fast der gesamte Clan. Die Männer hatten mich nun von zwei Seiten am Arm genommen und führten mich selbstverständlich zu dem größten Zelt, dem Zelt des Anführers.
Der Anführer, ein erstaunlich hagerer Mann in hohem Alter blickte von seinem Essen auf, genau so wie eine Frau im selben Alter und vier erwachsene Kinder. Der hagere Mann musterte mich ebenfalls intensiv, dann wandte er sich an den Mann mit meinem Beutel, der mich nicht am Arm gepackt hatte: „Wo habt ihr sie gefunden?“ Ich konnte ihn gut verstehen, auch wenn die Worte bei ihm genuschelt klangen. „Auf dem weißen Pfad.“ Antwortete ihm der Mann mit dem Bogen, der ebenso zu nuscheln schien. „War sie alleine?“ „Ja“ „Hat sie sich gewehrt?“ „Nein“ Der Anführer machte angesichts der Antworten ein noch skeptischeres Gesicht und brummte vor sich hin.
Auch wenn ich nicht Teil dieser Unterhaltung zu sein schien, hatte ich doch das Gefühl etwas sagen zu müssen: „Guten Abend, mein Name ist Siela, ich bin Heilerin des Malos Clans.“ Bei meinen Worten spießen alle Anwesenden einen überraschenden Laut aus. Der Anführer stand auf und kam auf mich zu. „Du kannst unsere Sprache sprechen?“ „Ja, ich habe sie von Kindesbeinen an gelernt, obwohl ich fürchte, dass ich eure Aussprache nicht beherrsche. Ich komme vom Clan der Malos einem Clan weit östlich von hier.“ „Aber du bist eine Weiße, wie kannst du unsere Sprache sprechen? Einige von euch haben sie erlernt, aber keiner könnte sie perfekt sprechen.“ „Ihr kennt andere, die so sind wie ich?“ fragte ich aufgeregt. War dies eventuell die Information nach der ich gesucht hatte? „Was meinst du damit?“ fragte mich der Mann und ich konnte deine Verwirrung durch all seine Falten hindurch erkennen.
Ich seufzte und fasste kurz meine Lebensgeschichte zusammen: „Ich wurde ein Baby in der Nähe des Malos Clans gefunden. Der Anführer und seine Frau haben mich aufgenommen und ich bin in dem Clan aufgewachsen und wurde zur Heilerin ausgebildet. Ich habe bisher noch niemaden getroffen, der die gleiche Hautfarbe hatte wie ich, bis mir vor einigen Wochen eine ältere Frau von ihnen erzählte, seitdem bin ich auf der Suche. Könnt ihr mir den Weg zu ihnen zeigen?“
Der Anführer lachte kurz und dunkel auf. „Nun, wenn ich deinen Worten Glauben schenken soll stellt uns dies vor einige Probleme. Doch andererseits haben die Weißen dann ja vielleicht noch mehr Interesse an dir.“ Ich verstand seine Worte nicht, doch die anderen Anwesenden schienen über die gleichen Probleme oder Vorteile zu grübeln wie ihr Anführer. Dieser sah meine Verwirrung und grinste mich so an, dass mir das Blut in den Adern gefror.
„Nun, Mädchen wir werden dich zu deinen Leuten bringen, vorausgesetzt sie haben Interesse an dir. Bis dahin darfst zu jedoch die Vorzüge einer Gefangenschaft bei dem Halander Clan genießen.“
DU LIEST GERADE
Sintalis - Weiße Rose
Historical FictionSiela lebt im Clan der Malos bei ihren Adoptiveltern, dem Clanoberhaupt Nossan und seiner Frau Ais. Scheinbar unüberwindbare Hindernisse trennen sie von der Welt ihres Adoptivclans und machen ihr das Leben schwer: Vorurteile, Mistrauen und Verschwör...