Die Übergabe

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Ich beobachtete gerade wie sich die Wolken durch die untergehende Sonne rot färbten, als Bewegung in das Lager der teilweise schlafenden Männer kam. Die Beutel wurden zusammengesucht und auch mir wurde wieder Aufmerksamkeit geschenkt, wobei ich den Verdacht hatte, dass ich nie unbeobachtet gewesen war, auch wenn es sich so angefühlt hatte. Meine Hände wurden mir hinter den Rücken gefesselt und zwei massive Wächter traten an meine Seite. Sie hielten mich jeweils am Arm und bildeten nun mit mir in ihrer Mitte die Spitze unseres Zuges. ‚Gar nicht so dumm.‘ dachte ich. Zum einen verkündeten sie so ihren Feinden, dass sie gewillt waren auf den Tausch einzugehen, präsentierten mit ihren eindruckvollsten Männern ihre Stärke und nutzten und drei gleich als Schutzschild, falls dennoch ein Angriff kommen sollte.

Die Männer zogen mich fast hinter sich her, da ich nach dieser langen Reise erst recht nicht mehr mit ihren Schritten mithalten konnte. Es ging nicht wie erwartet den Hügel hinunter, direkt auf das Lager zu, sondern die Männer wandten sich zunächst in die entgegengesetzte Richtung. Wir gingen ein Stück den Weg zurück und bogen dann ab. Als ich das Lager wieder sehen konnte erkannte ich, dass wir uns nun zwar auf der gleichen Ebene befanden, jedoch ein ganzes Stück rechts vom Lager waren. Ich vermutete, dass wir nun näher am Wasser waren, jedoch versperrten mir kleine Hügel den Blick auf das Ufer.

Der Trupp richtete sich so aus, dass wir zu dem Lager der Weißen guckten, mit mir an der Spitze und den anderen hinter uns. Mir fiel ein weiterer Punkt ihrer Taktik auf: Durch die massigen Männer an meiner Seite wurden die Männer dahinter weitestgehend verdeckt und ich war mir sicher, dass herannahende Truppen sich schwer damit tun würden die genaue Stärke dieser Truppe zu schätzen. Die Stärke der Truppe, die sich uns gerade auf verschlungenen Pfaden näherte war dagegen selbst für mich gut erkennbar, sie gingen in zweier Reihen und jeder zweite trug eine Fackel. Der Halander Clan hatte für die Übergabe fünfzehn ihrer stärksten Wachen losgeschickt. Uns entgegen kamen dagegen nur zehn und wie es aussah war mindestens eine Frau in langen Gewändern dabei. Doch trotz der offensichtlichen Unterlegenheit der Feinde wirkten meine Begleiter nicht so, als würden sie einen Kampf riskieren wollen.

Je näher sie kamen, desto mehr konnte ich von ihnen erkennen. Das Licht, was sie bei sich trugen und was ich ursprünglich für Fackeln gehalten hatte, sahen aus wie ihre Zelte, in die man Feuer eingesperrt hatte. Die Menschen trugen dieses Feuer nicht nach oben um Verbrennungen zu vermeiden, sondern nach unten und dennoch schützte dieses kleine Zelt sie vor dem Verbrennen ohne dabei selbst zu verbrennen. Ich hätte mich noch länger mit diesem ungewöhnlichen Feuer beschäftigen können, doch nun waren die Menschen besser zu erkennen und lenkten meine Aufmerksamkeit auf sich. Am Anfang der Truppe gingen die Frau und der Mann, die bereits die Verhandlungen bei dem Halander Clan geführt hatten. Hinter ihnen kamen Männer, die meist im mittleren bis hohen Alter zu sein schienen. Sie trugen alle weite Kleidung, die durch den Wind hin und her bewegt wurde. Die Männer sahen nicht so aus, als könnten sie kämpfen, erst recht nicht in diesen Kleidern. Doch jeder zweite von ihnen trug etwas langes, dunkles und offensichtlich schweres, während sein Nebenmann mit allerlei Kleinteiligem beladen war. Waren das Waffen? Wenn ja, dann mussten es diese Waffen sein, vor denen hier alle Angst hatten und weswegen sie diese eindeutig weniger kampferfahrenen Männer nicht angriffen.

Ganz hinten wurde jemand mit einem massiven Seil geführt. Das Material dieses Seiles war mir ebenso fremd wie alles andere der Weißen. Der Mann der in diesen Seilen geführt wurde bot einen starken Kontrast zu den Weißen. Er stach nicht nur durch seine Hautfarbe heraus, sondern auch durch seinen massiven Körper, seine Kleindung und seine Haltung. Ich überlegte, ob ich auch einen so großen Kontrast zu den Weißen bilden würde, wenn sie mich gleich übergeben würden. Wie sollte ich bloß solche Unterschiede überwinden und mich anpassen?

Der Trupp der Weißen war angekommen. Aus den Reihen hinter mir löste sich ein Mann und trat vor mich. Er sprach in der fremden Sprache, dabei deutete er auf mich und dann auf den Mann im Schlepptau der Weißen. Ich blickte auf den Mann, der sich in der gleichen Situation befand wie ich. Wobei ich nach einigem Überlegen doch große Unterschiede zwischen unseren Lagen fand: Er war in Gefangenschaft geraten und stand nun kurz davor nach Hause zurückzukehren, hatte schon seine Männer vor Augen und die Erlösung war für ihn zum Greifen nahe. Vermutlich würde er noch bevor der neue Tag anbrach seiner Mutter in die Arme fallen können. Ich hingegen war auf der Suche nach einem Zuhause in Gefangenschaft geraten und stand nun kurz davor Menschen übergeben zu werden deren Sprache ich nicht mal sprechen konnte und die ich größtenteils heute zum ersten Mal gesehen hatte. Und gleichzeitig war ich kurz davor mich weiter als je zuvor von meiner Familie zu entfernen. Während er also den Austausch mit Hoffnung verfolgte, war ich mir nicht sicher ob ich mir nicht die Gefangenschaft wieder herbeiwünschen sollte.

Das Gespräch zog sich hin und ich fragte mich, was sie zu besprechen hatten. Wurden eventuell Abkommen zwischen diesen Clans getroffen um solche Gefangenschaften zu vermeiden? Ich betrachtete in der Zeit weiter die Menschen die bald vermutlich mein neuer Clan waren. Ob diese Menschen sich auch Clan nannten? Wie war wohl der Name des Clans? Würde ich ihn überhaupt aussprechen können? Wie sollte ich die Sprache lernen, wenn offensichtlich keiner von ihnen meine Sprache sprach? Doch die Männer vom Halander Clan hatten es auch geschafft sie zu sprechen, wenn auch so, dass es oft zu Missverständnissen führte. Doch wie konnte ich mich in der Anfangszeit verständlich machen? Wie würden sie generell mit mir umgehen? Würde ich eine Gefangene werden? Sie kannten mich nicht, also wäre es nur logisch mich als Gefangene zu behandeln. Doch wenn dieser Mann dort tatsächlich mein Vater war, würde ich dann trotzdem eine Gefangene werden? Vielleicht sogar seine Gefangene, bis er mir trauen konnte? Würde ich in diesem fremden Clan eine Aufgabe finden? Könnte ich als Heilerin arbeiten? Oder durften dort die Frauen ebenso wenig wie bei den Malos? Doch hier stand eine Frau als Verhandlungsführerin, vielleicht hatten Frauen ja doch Möglichkeiten eine Position im Clan einzunehmen.

Etwas drückte gegen meinen Rücken, doch ich war so von meinen Gedanken abgelenkt gewesen, dass ich statt einen Schritt nach vorne zu gehen fiel und schmerzhaft auf meinen Knien aufkam. Der Wächter neben mir grunzte missmutig und zog mich grob hoch. Dann führte er mich auf die Truppe der Weißen zu. Ich sah, wie einer der Männer das Gleiche mit ihrem Gefangenen tat. Mittig zwischen den beiden Plätzen, wo die zwei Truppen Stellung bezogen hatten, trafen wir vier uns. Die Beiden Wächter guckten sich in die Augen, wobei mein Wächter fast einen Kopf größer war als der weiße Mann und so sah es etwas lustig aus, wie der kleine Mann grimmig und ernst nach oben in das Gesicht des doppelt so schweren Gegners guckte. Doch trotz dieser erheiternden Situation merkte ich, wie angespannt alle Beteiligten waren. Auf ein Zeichen von der Frau und eins von dem Sprecher des Halander Clans übergaben die Beiden Männer ihre Gefangenen gleichzeitig. Für einen Moment wurde ich sowohl von dem Wächter des Halander Clans als auch dem der Weißen festgehalten, bevor der massige Wächter mich losließ und ich mich nun vollständig in der Obhut der Weißen befand. Die Männer nickten sich noch einmal würdevoll zu, dann maschierte der Befreite und sein Wächter zügig zur Truppe des Halander Clans. Der Mann neben mir sagte etwas zu mir, doch als ich nicht reagierte, zog er mich leicht am Arm und auch wir näherten uns der zugehörigen Truppe.

Dort angekommen drehte ich mich um und sah, dass der Halander Clan sich bereits entfernt hatte. Da sie ohne Licht unterwegs waren wurden sie nach und nach von der Dunkelheit verschluckt. Ich atmete tief durch und versuchte gegen einen Kloß im Hals anzukämpfen. Vielleicht war es eine Vorahnung, vielleicht auch nur Heimweh, doch ich hatte das Gefühl, dass mit dem schwindenden Halander Clan, auch meine Heimat verschwand. Als der Halander Clan nicht mehr zu sehen war, schaffte es eine einzelne Träne sich durch meine Selbstbeherrschung zu kämpfen. Da meine Hände noch auf dem Rücken gefesselt waren, hatte ich keine Möglichkeit sie abzuwischen. So fühlte ich wie sie mir langsam, erst an der Nase, dann am Mund vorbeilief und schließlich an der Spitze meines Kinns verharrte, bis sie nach unten tropfte, mitten auf die Kette, die ich Mandoo zu Ehren trug. Und ich wusste, dass dies eine Träne des Abschieds war, des Abschieds von meinem früheren Leben.

Sintalis - Weiße RoseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt